Nacht der Versuchung
Schock, der ihre Persönlichkeit spaltete. – Hat Ihre Tochter in der letzten Zeit sehr große geistige Belastungen gehabt?«
Bernhardt wischte sich verwirrt über die Stirn. »Nein … das Abitur … gewiß … aber das alles machte ihr nichts aus. Sie war immer eine gute Schülerin … sie hat das Abitur mit Gut bestanden. Ihr ist das Lernen nie schwergefallen …«
»Vielleicht täuschen wir uns da alle.« Professor Schwade versuchte ein tröstendes Lächeln. »Sie hat es nie gezeigt und wollte unbedingt die gute Schülerin sein, die Sie als Vater erwarteten. Wir hatten schon mehrere solche Fälle hier … es ist kein Grund zur Aufregung. Drei Wochen Ruhe und Entspannung, und die Nerven sind wieder in Ordnung.«
Bernhardts und Klaus Blankers hielten sich genau an das, was Professor Schwade ihnen geraten hatte. Sie saßen an Margits Bett, bemühten sich, unbefangen und sogar fröhlich zu sein. Hubert Bernhardt erzählte, daß der Dackel Strolch mit einem Igel im Garten Krach bekommen habe. Lisa hatte ein neues Modeheft mitgebracht und Äpfel und Bananen. Dann standen sie auf, küßten ihre Tochter auf die Stirn und verließen wieder das Zimmer. Zurück blieb Klaus Blankers, der in der vergangenen halben Stunde kaum ein Wort gesagt hatte.
»Wie blaß sie aussieht«, sagte Lisa auf dem Flur und tastete nach der Hand ihres Mannes. »Diese großen Augen. Ganz fremd sieht sie aus. Es ist nicht mehr die Margit von früher … Ich habe Angst um sie, Hubs … schreckliche Angst …«
»Es ist noch der Schock.« Bernhardt suchte mit bebenden Fingern nach seinen Zigaretten. »Morgen ist es schon besser. Und erst übermorgen. Es ist doch erst ein paar Stunden her.«
Klaus Blankers war unterdessen im Zimmer an das große Fenster getreten und blickte hinaus in den sonnendurchfluteten Park und über die leuchtenden Rosenbeete. Die angegrauten Schläfen schimmerten fast weiß in dem grellen Licht. Ein tiefes Gefühl von Mitleid überflutete Margit. Da steht er nun und wartet auf eine Erklärung, dachte sie. Er liebt mich, und ich bin vor ihm geflüchtet, weil ich auch spüre, wie ich ihm näherkomme. Ich bin von ihm weggelaufen, weil ich nicht mehr die bin, als die er mich ansieht, weil ich ihn nicht betrügen will, weil ich mich schäme, ihm die Wahrheit zu sagen: Vor dir hat mich ein anderer besessen. Ein Lump! Ein Schuft! Ein Nichtstuer! Ein skrupelloser Verführer! Und was das Schlimmste ist: Ich kann diese eine Nacht nicht vergessen. Sie ist in meiner Seele, in meinem Blut, in meinem Wesen eingebrannt wie ein Kainszeichen. O lieber Klaus, wie soll ich dir das jemals erklären?
»Ist es dir unangenehm, wenn ich noch hier bin?« fragte Blankers. Er hatte das weiße Gitter umfaßt und drückte die Stirn gegen die Eisenstäbe.
»Nein, Klaus.« Ihre Stimme war klein und kindlich, kläglich fast.
»Ich habe mir aus der Fabrik Urlaub genommen und die Leitung einem guten Mitarbeiter übergeben. Ich möchte Zeit haben für dich. Viel Zeit. Aber wenn du glaubst, daß es nicht nötig ist …«
»Doch, Klaus. Ich freue mich.«
Er drehte sich um und sah in ihren Augen, daß sie es ehrlich meinte.
»Wenn du dich kräftig genug fühlst und der Professor es erlaubt, fahre ich dich durch die Gegend. Und später – ich habe mit Vater schon darüber gesprochen – sollst du dich sechs Wochen erholen …«
»Das ist schön, Klaus.« Margit legte die Arme unter den Nacken. Ihr schmales Gesicht hatte plötzlich wieder Farbe bekommen. »Laß uns in die Heide fahren, ja? In irgendein einsames, ganz abgelegenes Heidedorf, mitten zwischen Holunder, Birken und zotteligen Heidschnucken.« Sie lächelte, als Klaus Blankers an ihr Bett trat, sich niederbeugte und sie auf die fahlen Lippen küßte.
»Ich werde das einsamste Dorf der Welt suchen, Margit. Aber warum gerade die Heide?«
»Weil dort kein Wasser ist … Ich kann kein Wasser mehr sehen! O Klaus – «
Sie warf die Arme um seinen Nacken, zog seinen Kopf herunter und küßte ihn mit einer verzweifelten Wildheit. Professor Schwade, der in diesem Augenblick ins Zimmer sah, schloß schnell wieder die Tür und ging lächelnd zu den wartenden Bernhardts zurück.
»Die Heilung hat schon begonnen«, sagte er, »ihre Persönlichkeit kehrt zurück.«
*
Von diesem Tage an wirkte Margit wie ein neuer Mensch. Fröhlich, gesprächig, eine ›helle Seele‹, wie Professor Schwade sich ausdrückte. Sie mußte zwar noch im Sanatorium bleiben, bis die akute Gefahr einer Lungenentzündung
Weitere Kostenlose Bücher