Nacht der Versuchung
nächsten Morgen, zerhieb er mit einer Axt den Motor und das Boot, und sagte zu den Fischern – es waren damals neun Familien – mit einer bärenlauten Stimme: »Freunde, ich bleibe bei euch. Für immer. Ich habe das Leben da draußen satt. Es ekelt mich an. Gebt mir ein Stückchen Land, und ich will euch ein guter Arzt sein.«
Nach vier Jahren regierte Dr. Lopez die Insel. Die Revolution ging an der kleinen Insel genauso spurlos vorbei wie der 2. Weltkrieg. Nur einmal landete ein deutsches U-Boot, aus purer Neugier, um festzustellen, ob dieses Eiland bewohnt sei. Von diesem Tage an gab es die Fahnenstange auf dem Hügel. Die Flagge Spaniens knatterte im Wind. Und es wuchs mit den Jahren ein stolzes Geschlecht heran, Fischer und Bauern, die sich ›Baléanos‹ nannten und in Dr. Lopez so etwas wie ihren König sahen. Ihre Abneigung gegenüber dem Festland vererbten sie weiter; sie blieben Fischer, wurden auf der Insel geboren und starben dort, ein Menschenschlag, hart wie die Stürme und wetterbraun wie die Bootsplanken.
In diesen Tagen nun erlebte die kleine Insel eine Sensation. Der Fischer Juan Cordez, der nach vier Wochen Abwesenheit zurückkehrte, weil er einen weitläufigen Onkel bei Tossa an der Costa Brava beerbt hatte und mit Erlaubnis von Dr. Lopez hinfahren durfte, um das Geld abzuholen – er brachte nicht nur Peseten und einige Möbel als Erbe mit, sondern auch einen todkranken fremden Menschen.
»Ich habe ihn aus dem Meer gefischt«, berichtete Juan Cortez. »In einem Autoreifen hing er dring, wie andere in Rettungsringen. Und er war besinnungslos. Ein paarmal ist er auf der Rückfahrt aufgewacht, hat etwas in einer fremden Sprache gesagt, und ist dann wieder besinnungslos geworden.«
Man trug den Fremden sofort zu Dr. Lopez.
In dem Haus des alten Arztes roch es ständig nach Alkohol. Vor dreißig Jahren war er geflüchtet vor dem Trunk; hier auf der Insel gab es kein Entrinnen mehr. Aber es gab auch keine ärztliche Standesordnung; es gab keine Gosse, in der man ihn auflesen konnte; es gab keine vornehme Gesellschaft, die ihn ausstieß, und es gab keine Menschen, die mit Fingern auf ihn zeigten und ihm auf der Straße nachriefen: »Seht doch, seht, da geht der versoffene Carlos!«
Was Dr. Lopez jetzt trank, war selbstgekelterter Wein. Er trank morgens, mittags und abends eine Flasche, aber nicht wie ein Trinker, sondern wie ein Kranker seine Medizin; gläserweise, mit kleinen Schlucken. Er genoß das langsam aufsteigende Gefühl der Trunkenheit – und erst, wenn auf der Insel die Petroleumlampen erloschen, gab er sich den Rest und sank betrunken auf sein Bett. Nacht für Nacht. Und doch schworen seine Inselbewohner auf ihn, denn er hatte über achtzig Kinder geholt, hatte drei Fischer operiert und ihnen das Leben gerettet; hatte Maria, einer jungen Frau, einen Tumor aus dem Leib geschnitten und dem Fischer Miguel ein Myom weggenommen. Er kannte jeden Körper auf dieser Insel und wußte, welche Medizin ihm guttat. Ohne Dr. Lopez war die Insel Baleanès nicht mehr denkbar.
»Das ist ein schwerer Fall«, sagte Dr. Lopez, als er den Fremden untersucht hatte. »Er hat einen Schädelbruch, bekommt eine Lungenentzündung, hat den Körper voller Blutergüsse und leidet an einem labilen Kreislauf. Wie bist du an den gekommen, Juan?«
Der Fischer Cortez kratzte sich den Kopf. »Er schwamm im Meer. In einem Autoreifen. Sollte ich ihn schwimmen lassen?«
»Natürlich nicht, du Idiot! Aber warum hast du nicht die nächste Küstenstation angesteuert?!«
»Ich dachte, daß Sie …« Der Fischer Cortez sah sich hilfesuchend um. Das halbe Dorf stand im Zimmer des Arztes. »Sie bekommen doch jeden hin, Señor Lopez. Wenn er gerettet werden kann, so dachte ich, dann nur von unserem Doktor …«
»O Himmel, wenn ihr anfangt zu denken!« Dr. Lopez gab dem Fremden zunächst eine Herzinjektion. Jeden Monat, wenn das Schiff von Columbrete Grande kam, brachte es auch die Medikamente mit, die Lopez einen Monat vorher bestellt hatte. So hatte er immer einen Vorrat an Spritzen, Tabletten und Salben für alle Krankheitsfälle. »Bin ich ein Wundermann?«
»So etwas Ähnliches, Doktor.«
»Der Mann ist halbtot!« Lopez horchte wieder das Herz des Fremden ab. »Er muß irgendwo ins Meer gestürzt sein.«
»Mit einem Reifen um den Hals?«
Dr. Lopez kniff die Augen zusammen. Ein merkwürdiger Fall, dachte er. Cortez hatte recht. Gewöhnlich trägt man keine Autoreifen um den Hals. Ob man ihn ersäufen wollte, und zu
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