Nacht der Versuchung
Hand klammerte sich um die Felgenhörner, schneeweiß, wie die Hand eines Toten. Und nun tauchte auch der Kopf aus dem Wasser auf, sekundenlang nur, wirres Haar, blutige Stirn, ein wie zum stummen Schrei aufgerissener Mund …
Nach dem ersten Schreck handelte Juan rasch und entschlossen. Er erreichte den treibenden Reifen, beugte sich über den Bootsrand und packte mit seinen kräftigen Fäusten zu. Nach dem zweiten Versuch erwischte er die Schulter des Menschen, zerrte ihn keuchend hoch, obwohl das schwer beladene Boot bedrohlich schwankte, und hievte den regungslosen Körper an Bord.
Es war ein Mann, ein großer, blonder Mann Mitte Dreißig. Er schien ohne Leben, Wasser rieselte ihm aus dem Mund, aus der Nase, aus den völlig durchnäßten Kleidern. Aber die rechte Hand hielt immer noch den Autoreifen fest, schraubstockartig, eine krampfhafte Umklammerung, ein letztes Aufbäumen des Lebenswillens.
»Madre de Dios!« stöhnte Juan Cortez und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er mußte erst zwei Stühle aus Onkel Pedros Nachlaß beiseite rücken, bevor er den Körper des Mannes ausgestreckt auf den Boden des Bootes legen konnte. Sofort begann er mit der Wiederbelebung, er hatte Übung darin. Kleider runter, dann die Arme gepackt, hochgerissen, an die Brust gedrückt, kräftig in regelmäßigem, raschem Rhythmus.
Der Fremde begann zu husten, bäumte sich auf, ein Schwall Wasser schoß ihm aus dem Mund. Unermüdlich pumpte Juan weiter, keuchend vor Anstrengung. Er sah, wie in die hellen Augen des halb Bewußtlosen das Leben zurückkam, sah das Zucken um den blutverschmierten Mund.
Sekundenlang hörte er auf mit Pumpen. Und siehe da, der Mann atmete weiter. Unregelmäßig noch, schwer und mit rasselnden Bronchien. Aber er atmete weiter! Er war gerettet!
Juan Cortez bekreuzigte sich. Dann griff er in ein kleines Fach unter dem Bootsrand, holte eine Flasche selbstgebrannten Obstschnaps hervor, trank erst selbst einen tiefen Schluck und drückte dann den Flaschenhals dem Fremden an den Mund.
Der Mann schluckte, hustete, hob ein wenig den Kopf. Langsam, ganz langsam kam Farbe in sein totenblasses Gesicht. Er murmelte etwas in einer Sprache, die Juan nicht verstand. Dann fiel der Kopf zurück, die Augenlider klappten wieder zu.
Jetzt schläft er, dachte Juan und legte dem Fremden vorsichtig einen zusammengerollten Jutesack unter den Kopf. Er schläft, er hat's überstanden.
Ein paar Minuten lang zögerte der junge Fischer noch. Dann ging er ans Ruder und drückte den Gashebel des Motors ganz nach vorn. Tuckernd zog das Boot einen Bogen und stampfte aufs offene Meer zu.
*
Die Insel Baleanès ist so klein, daß sie auf keiner gebräuchlichen Landkarte steht. Nur Seekarten und die Stabsblätter der Armee verzeichnen sie als einen fast kreisrunden Fleck im Mittelmeer, südöstlich der zu den Islas Columbretes gehörenden Insel Churruca . Ein Eiland, das nur von Fischern bewohnt wird, von genau sechzehn Familien mit neunundachtzig Kindern, einigen Kühen und Ziegen, Hühnern und Hunden, schwarzen Schweinen und neununddreißig Eseln. Wenn man sich anstrengt, hat man die Insel in zwanzig Minuten Fußmarsch umrundet, wobei man vom höchsten Punkt der Insel, einem Hügelchen mit einer Fahnenstange, überall gesehen werden kann.
Diese Fahnenstange war eine Idee von Dr. Carlos Lopez.
Wer die Insel Baleanès jemals betreten hat, wird wissen, daß es hier so etwas gab wie paradiesische Ordnung. Sechzehn Fischerfamilien lebten ohne Sorgen unter der fast ewig scheinenden Sonne; das Meer und der Boden ernährte sie; jeden Monat einmal kam ein Schiffchen von der Insel Columbrete Grande herüber und brachte Gewürze, Kleidung, Öl, Petroleum und Wein, Netzkordeln und andere Seile, aber nie Post oder eine Zeitung – denn was kümmerte die Fischer von Baleanès die große Welt, wenn ihre kleine Welt so ein Paradies war. Und dies dank der strengen Hand des ›Erzengels‹ Dr. Lopez. Er residierte in einem weißen Steinhaus am Hügelfuß, baute Wein an und achtete auf die Gesundheit der sechzehn Familien, der neunundachtzig Kinder, die er alle aus den Schößen der Mütter geholt hatte, und der Kühe und Esel, die auf der Insel so wertvoll waren wie ein Mensch.
Mit Dr. Lopez hatte es eine besondere Bewandtnis. Vor fast dreißig Jahren kam er auf die einsame Insel, mit einem Motorboot, abgerissen, aufgedunsen, vom Alkohol zerstört. Als er auf Baleanès landete, fiel er in den Sand und schlief seinen Rausch aus. Dann, am
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