Nacht der Versuchung
das Meer. Hinter ihm, an einen der Pfähle gelehnt, die zum Netzetrocknen in den kiesigen Strand gerammt waren, lehnte Estrella und ließ ihr langes schwarzes Haar im Seewind flattern.
Drei Wochen waren nun vergangen, seitdem der Fischer Juan Cortez den Unbekannten aus dem Meer gefischt und mit nach Baleanès gebracht hatte. Dr. Lopez hatte das Kunststück fertigbekommen, eine Lungenentzündung abzuwenden und den Schädelbruch so anheilen zu lassen, daß der Fremde nach drei Wochen aufstehen durfte und ungeachtet aller medizinischen Bedenken herumgehen konnte.
»Frische Luft ist besser als jede Medizin«, sagte Dr. Lopez, als er den Fremden zum erstenmal an den Strand führte und in den Schatten setzte. »Die Salzluft des Meeres ersetzt eine ganze Apotheke. Atmen Sie tief ein, mein Lieber, aber hüten Sie sich noch vor der Sonne. Und wenn es Ihnen zu langweilig wird, dann angeln Sie.«
Im Dorf gewöhnte man sich an den neuen Bewohner. Jeder bedauerte ihn, denn Dr. Lopez hatte etwas verraten, was für die biederen Fischer das Schrecklichste war, was sie sich vorstellen konnten: Der Unbekannte hatte sein Gedächtnis verloren und wußte nichts von seinem früheren Leben.
»Es ist so, Leute«, hatte Dr. Lopez ihnen erklärt. »Er hat einen Schädelbruch erlitten, und irgendein Gehirnzentrum ist eingequetscht worden – gerade der Teil, der für die Erinnerung verantwortlich ist. Ich habe ihn gefragt; er weiß nicht, wie er heißt, wo er herkommt, was er ist; er weißt nicht, daß er im Meer getrieben hat. Er weiß nur, daß er lebt, hier fremd ist und daß er vergessen hat, wohin er zurück will. Aber einen Namen muß er ja haben, nicht wahr. Und so wollen wir ihn Fernando Exposito nennen.«
Dabei blieb es, und der Fremde nahm diesen Namen an, als sei er schon immer Fernando der Findling gewesen.
»Ja, so heiße ich«, sagte er sogar und sprach ein gebrochenes, aber doch verständliches Spanisch. »So hat mich meine Mutter immer gerufen … Fernando … Jetzt erinnere ich mich ganz genau …« Dabei lächelte er glücklich, und in seine blauen Augen trat so etwas wie ein Glanz des Glückes.
Für Dr. Lopez wurde Fernando ein medizinisches Experiment, der letzte große Fall als Arzt; eine Lebensaufgabe für die letzten Jahre, die ihm seine immer mehr verhärtende Leber noch ließ. Er beobachtete Fernando Exposito wie einen Homunkulus in der Retorte, er unterhielt sich mit ihm stundenlang über England, Frankreich, Deutschland, Spanien, Italien … und wartete darauf, daß einmal, bei irgendeinem Wort, die Erinnerung wie ein Blitz einschlüge und daß aus dem Findling wieder ein namentragender Mensch würde.
Aber nichts geschah. Fernando zeigte eine große Intelligenz, aber wenn er sich erinnern sollte, lief er gegen eine schwarze Mauer. »Ich weiß es nicht«, sagte er dann, und man sah, wie er sich anstrengte, aus seinem teilweise stillgelegten Hirn lebende Bilder hervorzuholen. »Ich kann mich an nichts mehr erinnern. Es ist mir, als habe ich immer schon hier bei euch gelebt. War ich denn wirklich nicht immer auf Baleanès?«
Estrella kümmerte sich rührend um Fernando. An ihrem Arm ging er zum erstenmal durch das Dorf, saß an dem kleinen Hafen, wenn die Boote ausliefen, lernte von ihr, wie man Netze flickt und Löcher zuknüpft; sie angelten im seichten Wasser, oder er half ihr, die Fische auf dünne Stecken zu spießen und über einem Laubfeuer zu räuchern.
»In einer Woche kommt das Schiff von Columbrete Grande«, sagte Juan Cortez zu Dr. Lopez. »Geben Sie Fernando mit zur Küste, damit er dort weiter betreut wird?«
»Bist du verrückt?« Dr. Lopez hob drohend beide Arme. »Wehe, wenn einer von euch nur ein Wort über Fernando sagt! Zu Hackfleisch mache ich euch! Er bleibt hier, ich bilde ihn aus zu meinem Assistenten, und wenn ich einmal nicht mehr bin, habt ihr einen guten Nachfolger für mich. Fernando gehört zu uns, ich will nichts anderes mehr hören!«
»Schon gut, Don Lopez.« Juan Cortez ging ins Dorf zurück. Er machte sich seine eigenen Gedanken. Estrella kam nur noch selten nach Hause. Sie lebte nun fast wie selbstverständlich im Haus von Dr. Lopez, und man sah sie immer in Begleitung Fernandos. Die anderen Familien sprachen schon darüber. »Wann heiraten sie denn?« neckte man Juan Cortez. »Paß auf, eines Tages kommt sie zurück und sagt: Mein liebes Väterchen, ich habe mir etwas gefangen. Haha!«
Für Juan Cortez waren dies unhaltbare Zustände, und er beschloß, einmal mit
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