Nacht der Versuchung
daran hindern. Außerdem kann ich mir sowieso nicht vorstellen, warum Sie wünschen könnten, dass wir bleiben, nach allem, was Sie gesagt und wie Sie sich uns gegenüber verhalten haben.”
“Nein, ich wünsche auch keineswegs, dass Sie bleiben”, bestätigte er schroff. “Aber leider haben Sie keine andere Wahl … es sei denn, Sie wollen sich und das Baby dem fast sicheren Tod ausliefern.”
Mariella sah ihn verständnislos an. Was wollte er damit sagen? Versuchte er etwa, ihr zu drohen? “Wir fahren jetzt”, wiederholte sie bestimmt und ging entschlossen, wenn auch mit klopfendem Herzen, auf den Ausgang zu, den Xavier immer noch versperrte.
“Sind Sie verrückt? Wenn Sie Glück haben, kommen Sie ein halbes Dutzend Meilen weit, bevor Sie im Treibsand versinken. Glauben Sie mir, der Sturm gestern Abend war nichts im Vergleich zu dem, was sich jetzt da draußen zusammenbraut.”
Sie atmete tief ein. “Ich war eben erst draußen. Es weht überhaupt kein Wind”, sagte sie betont geduldig. “Der Sturm ist vorbei.”
“Was Sie natürlich wissen, weil Sie ja zweifellos eine Expertin für Wetterfragen in der Wüste sind! Zu Ihrer Information: Der Grund, warum vorhin überhaupt kein Wind wehte, ist, dass wir uns hier im Auge des Sturms befinden … oder genauer, befanden. Und jeder, der sich auch nur ein bisschen in der Wüste auskennt, würde das wissen. Haben Sie nicht die unwirkliche Stille gespürt? Ist Ihnen nicht der Sanddunst aufgefallen, der den Himmel bedeckte?” Xavier sah sie herausfordernd an.
“Sie lügen”, entgegnete Mariella eigensinnig. “Sie wollen uns einfach hier festhalten, weil …”
Als sie verstummte, lächelte er spöttisch. “Ja? Ich will Sie hier festhalten, weil …?”
Weil du genau weißt, wie scharf ich auf dich bin, flüsterte eine verräterische Stimme in Mariellas Herzen. Und weil du genauso empfindest. Unwillkürlich jagte ihr ein Schauer über den Rücken, und sie riss sich energisch zusammen. “Sie lügen!”, wiederholte sie und sah Xavier angriffslustig an.
“Meinen Sie?” Er trat zur Seite und hob den Türvorhang, sodass sie nach draußen sehen konnte.
Die Palmen bogen sich jetzt so stark im Wind, dass ihre Wedel den Sand berührten. Ungläubig beobachtete Mariella das beängstigende Schauspiel und lauschte auf den Wind, der immer mehr an Gewalt gewann, bis er heulend um die Oase pfiff. Aus dem Nichts wirbelte er hohe Sandspiralen auf und ließ sie vor Mariellas Augen tanzen. Die Sonne war kaum noch zu erkennen, die Grenze zwischen Wüste und Himmel verwischte zusehends.
Fassungslos trat sie einen Schritt vor das Zelt und schrie erschrocken auf, als der Wind sie fast von den Füßen holte. Auf ihrem Arm fing Fleur an zu weinen und wurde im nächsten Moment von Xavier gepackt und in die Sicherheit des Zeltes zurückgeholt. Mariella wurde kreideweiß bei der Vorstellung, was mit ihnen geschehen wäre, wenn sie in der offenen Wüste von diesem Sturm überrascht worden wären.
“Glauben Sie mir jetzt?”, fragte Xavier, als Mariella ihm zurück ins Zelt gefolgt war und er den Türvorhang gesichert hatte.
Mariella nahm ihm Fleur wieder ab, wobei ihre Finger unabsichtlich sein feuchtes T-Shirt berührten. Sie zuckte so heftig zurück, dass sie fast das Gleichgewicht verlor. Xavier stützte sie mit beiden Händen, sodass es für einen Moment so aussah, als würde er sie und das Baby umarmen und in Sicherheit wiegen.
Wider alle Vernunft spürte Mariella Tränen in den Augen. O ja, sie sollte wirklich weinen … um ihre eigene Dummheit, die es zuließ, dass sie derart leicht aus dem Gleichgewicht geriet … in jeder Hinsicht! Entschlossen wich sie zurück. “Wie lang wird dieser Sturm voraussichtlich dauern?”
“Mindestens vierundzwanzig Stunden, vielleicht auch länger. Da wir innerhalb dieses Sturms keinerlei Kommunikationssignale empfangen können, lässt es sich nicht genauer sagen. Um diese Jahreszeit sind solche Stürme eher selten, aber wenn sie auftreten, sind sie besonders unberechenbar und wild.”
Genau wie Xavier selbst, dachte Mariella und drückte Fleur schützend an sich.
5. KAPITEL
M ariella stand von dem Bett auf, wo sie sich ausgestreckt und gelesen hatte, und schaute nach Fleur. Es war fast acht Uhr abends. Fleur war wach, aber ganz zufrieden und ließ sich von Mariella auch bereitwillig in den Mund sehen, wo das erste kleine Zähnchen gerade durchgekommen war. Es schien der Kleinen jetzt keine Probleme mehr zu machen.
Bereits am
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