Nacht des Begehrens - Cole, K: Nacht des Begehrens
sogleich schüttelte sie den Kopf, wie um diese Gedanken zu vertreiben. Sie wollte es gar nicht wissen. Sie brauchte es nicht zu wissen.
Annika hatte ihr einmal erzählt, Vampire seien kalt und leidenschaftslos. Sie seien wie kein anderes Geschöpf der Mythenwelt dazu in der Lage, ihre Logik einzusetzen und damit jedes Detail, das nicht ihr Ziel betraf, auszuklammern.
Emma hatte eine Aufgabe zu erledigen. Punkt. Und wenn sie sie erledigt hatte, würde sie ihre Freiheit wiedererlangen. Sie musste einfach immer nur den Ball im Auge behalten. Du hast doch im Leben nie Basketball gespielt, du dumme Kuh! Ja, klar.
War auch egal. Zieh es einfach durc h – dann ist bald wieder alles wie früher .
Während sie ihre Haare einschäumte und wusch, grübelte sie über die Woche vor dieser total verunglückten Reise nach, die so typisch für ihr Leben war. Von Montag bis Freitag recherchierte sie für ihren Koven und trainierte, bevor sie gemeinsam mit denjenigen unter ihren Tanten, die man mit einigem Fug und Recht als Nachteulen bezeichnen konnte, da sie immer sehr lange wach waren, einen Spätfilm im Fernsehen ansah. Freitags und samstags kamen die Hexen vorbei, mit ihrer Xbox und Mixern voller pastellfarbener Drinks. Am Sonntagabend ritt sie mit den guten Dämonen aus, die häufig in der Gegend beim Herrenhaus rumhingen. Wenn sie nur ein paar winzige Kleinigkeiten an ihrer Existenz verändern könnte, wäre ihr Leben verdammt noch mal nahezu perfekt.
Bei diesen Gedanken runzelte sie die Stirn. Als Vampir durch Geburt konnte sie andere nicht belügen. Wenn sich eine Unwahrheit in ihre Gedanken schlich und sie dann auch noch den Impuls verspürte, sie zu verwenden, wurde sie schrecklich krank. Nein, Emma konnte andere nicht anlügen, aber sie hatte schon immer das Talent besessen, sich selbst zu belügen. Ein paar winzige Kleinigkeiten? In Wirklichkeit gab es eine gähnende Leere in ihrem Lebe n – und eine tief sitzende Angst bezüglich ihrer Veranlagung, die allgegenwärtig war.
Soweit sie wusste, gab es auf der ganzen Welt niemanden sonst, der wie sie war. Sie gehörte einfach nirgendwohin. Und wenngleich ihre Walkürentanten sie liebten, spürte sie jeden Tag die Einsamkeit, so heftig wie ein Messer, das ihr ins Herz gestoßen wurde.
Sie hatte geglaubt, sie würde vielleicht noch andere finden, die ihr glichen, wenn sie herausfand, wie ihre Eltern zusammengelebt und ein gemeinsames Kind hatten bekommen können. Dann könnte sie vielleicht eine Verbundenheit zu jemand anderem spüren. Und wenn sie mehr über ihre Vampirhälfte herausbekommen könnte, würden sich möglicherweise ihre Befürchtungen zerstreuen, sie könne eines Tages so wie sie werden. Denn niemand sollte sich Tag für Tag den Kopf zerbrechen müssen, ob er sich demnächst vielleicht in einen Mörder verwandeln könnte.
Wenn sie angenommen hatte, dass er ihr nun ihre Privatsphäre lassen würde, weil er seine Lektion gelernt hatte, so hatte sie sich gründlich getäuscht. Er kam einfach hereingeplatzt und öffnete die Tür der Duschkabine. Sie fuhr erschrocken zusammen und hatte große Mühe, den Conditioner nicht fallen zu lassen. Es gelang ihr mit knapper Not, den Henkel der Flasche mit der Spitze ihres Zeigefingers aufzufangen.
Sie sah, wie sich seine Fäuste ballten und wieder öffneten, und ihr Finger erschlaffte. Die Flasche knallte zu Boden.
Ein einziger Schla g … Das Bild des zerfetzten Nachttischchens schoss ihr durch den Kopf. Dann die Erinnerung an das Auto, das er weggefegt hatte wie ein zusammengeknülltes Stück Papier. Brocken von Marmor, die nicht zu Staub zermahlen worden waren, bedeckten immer noch den Boden der Dusche.
Dummkopf! Sie war so dämlich gewesen zu glauben, er werde ihr nicht wehtun. Schmerzen zu erleiden, fürchtete sie von allen Dingen am meisten. Und jetzt stand ein Lykae mit vor Zorn geballten Fäusten da. Genau vor ihr.
Sie zog sich in eine Ecke zurück. Dadurch wandte sie ihm ihre Seite zu, in der Hoffnung, ihre Nacktheit so besser verbergen zu können. Und wenn er zuschlug, konnte sie sich rasch ducken und die Knie an die Brust ziehen. Aber er zog wieder von dannen, irgendeinen fremdartigen Fluch auf den Lippen.
Nachdem sie geduscht hatte, kehrte sie ins Schlafzimmer zurück und musste feststellen, dass fast all ihre Besitztümer verschwunden waren. Hatte er die Sachen vielleicht schon ins Auto gebracht? Wenn das der Fall war, würde sie glatt zehn Euro darauf wetten, dass ihr Laptop ganz zuunterst lag.
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