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Nacht des Flamingos

Nacht des Flamingos

Titel: Nacht des Flamingos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack Higgins
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wandte sich um und hastete in großen Sprüngen über den Ponton der Kähne zurück zum Ufer. Er eilte am Fluß entlang zur Brücke.
      Nick Miller wollte eben die Brücke überschreiten, als Hammond auftauchte und sich atemlos an das Geländer stützte.
    Miller eilte auf ihn zu.
    »Etwas passiert?«
    »Die Polizei«, keuchte Hammond. »Ich brauche die Polizei.«
      »Da sind Sie bei mir an der richtigen Stelle«, versetzte Miller kurz. »Was gibt's?«
      »Unten im Fluß liegt ein Mädchen«, antwortete Hammond. »Auf der anderen Seite drüben. Bei den Kohlenkähnen. Gleich unter dem Landungssteg.«
    »Tot?« fragte Miller.
      Hammond nickte. »Ich bin zu Tode erschrocken. Ich war überhaupt nicht darauf gefaßt.«
      »Drüben, auf der anderen Seite der Brücke ist ein Restaurant, das die ganze Nacht geöffnet hat«, sagte Miller. »Rufen Sie die Polizei an und sagen Sie, man soll einen Streifenwagen und einen Sanitätswagen herschicken. Ich gehe inzwischen hinunter und seh' nach, was ich tun kann.«
    Hammond nickte stumm. Dann eilte er davon.
      Miller rannte rasch die Stufen hinunter und lief schnellen Schrittes das Ufer entlang. Es hatte zu regnen aufgehört. Eine kühle Brise wehte vom Wasser her. Er fröstelte in der frischen Morgenluft. Dann hatte er den Landungssteg erreicht und sprang auf die erste Barke.
      Zuerst konnte er sie nirgends entdecken. Dann wühlte ein plötzlicher Strudel in der Strömung des Flusses das Wasser auf und trieb Schmutz und Schlick auf der Wasseroberfläche auseinander. Und da blickte sie zu ihm auf.
      Sie war schön – schöner als jede Frau, die er je gesehen hatte. Ihre Schönheit faszinierte ihn. Die Tote war von der Strömung unter den Landungssteg getrieben worden. Dort hing ihr Körper wie schwebend unmittelbar an der Oberfläche. Ihr Kleid umflutete sie wie eine Wolke. Das lange, goldblonde Haar umgab sie wie ein Strahlenkranz, und in ihren Augen stand ein Ausdruck leiser Überraschung. Ihr Mund war leicht geöffnet und verlieh ihrem Gesicht einen Zug der Verwunderung – so als wäre sie erstaunt darüber, wie leicht es gewesen war.
    Oben auf der Brücke schepperte jetzt die blecherne Glocke des Polizeiwagens. Aus der Ferne kam schwach das Heulen einer Sirene. Das mußte der Sanitätswagen sein. Doch er konnte nicht warten. Dies war auf seltsame Art plötzlich zu seiner persönlichen Angelegenheit geworden. Er warf seinen Regenmantel ab und schlüpfte aus seinem Jackett. Dann zog er die Schuhe aus und ließ sich an der Seite des Lastkahns langsam hinunter in den Fluß.
      Das Wasser war bitterkalt, und dennoch war er sich dessen kaum bewußt, als er mit weitausholenden Zügen das Wasser teilte. Im selben Augenblick, als er unter den Landungssteg tauchte und die Arme nach ihr ausstreckte, brachen die ersten Strahlen der Morgensonne durch den verhangenen Himmel. Sie trafen glitzernd das graue Wasser, und es war, als lächelte sie, als er unter die Oberfläche griff und sie an sich zog.
      Ungefähr zwanzig Meter weiter rechts führten mehrere breite Stufen von der Uferböschung hinunter zum Wasser. Mit dem Mädchen im Arm schwamm er auf die Treppe zu. Als seine Knie im seichten Wasser eine Kiesbank berührten, richtete er sich auf. Er hob sie hoch, um sie anzusehen.
      Doch jetzt sah sie anders aus. Jetzt war ihr Gesicht tot und ohne Leben.
      Reglos stand er da, bis zu den Knien im Wasser, das Mädchen in den Armen. Und als er so auf sie niederblickte, war ihm, als schnürte sich seine Kehle zusammen, und eine Empfindung stieg in ihm auf, als hätte ein persönlicher Verlust ihn getroffen.
    »Warum?« murmelte er leise. »Warum?«
    Doch darauf gab es keine Antwort.

    2

    Chefinspektor Bruce Grant, der Leiter der örtlichen Kriminalpolizei, stand am Fenster seines Büros, eine Tasse Tee in der Hand, und starrte mißmutig in den strömenden Regen hinaus. Er hatte Kopfschmerzen, und seine Leber machte ihm wieder einmal zu schaffen. Ich werde eben alt, dachte er. Alt und behäbig, weil mir die körperliche Betätigung fehlt. Der Stapel von Papieren, der auf seinem Schreibtisch wartete, trug auch nicht dazu bei, ihn aus seiner Stimmung der Niedergeschlagenheit zu reißen. Seufzend steckte er sich eine Zigarette an – die erste des Tages – und setzte sich hinter seinen Schreibtisch. Er zog den Kasten mit den eingegangenen Meldungen zu sich heran.
      Über dem ersten Bericht stand groß und deutlich ›Tot aufgefunden – Identität unbekannt‹.

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