Nacht des Ketzers
weiterzugehen. Nach einigen Metern drehte er sich um. „Vielleicht treffen wir uns ja bald einmal auf ein Glas Wein, und Ihr erklärt mir Eure Philosophie?“
Kapitel 52
Nie mehr zurück nach Italien. Die Begegnung mit Monsieur de Montaigne hatte Giordano sehr erfreut, aber auch sehr nachdenklich gestimmt. Insgeheim hatte er sich gewünscht, dass sich die Aufregung über ihn in der Heimat irgendwann einmal legen würde. Zumal er nun schon seit über drei Jahren von Italien fort war. Gewiss, dass er nach Genf nicht mehr zurückkehren konnte, war ihm klar. Auch nach Toulouse zog es ihn nicht mehr. Aber Neapel, Nola? Das alles sollte ihm für immer verwehrt bleiben? Nie mehr Vater und Mutter sehen? Nie mehr den Vesuv, den Golf? Was hatte Montaigne gesagt? Höchste Lebensgefahr drohe ihm, wenn er zurückkehre, die Inquisition lauere auf ihn? Giordano sah zum Fenster hinaus. Das Dunkel der Nacht hatte sich auf die Stadt gesenkt. Der Gedanke, seine Eltern nie mehr zu sehen, schmerzte ihn. Durch das geschlossene Fenster drang Straßenlärm. Er öffnete es und beugte sich hinaus, konnte aber über den Dachansatz die Gasse unter ihm nicht sehen. Die Luft war kühl, aber würzig. Begierig sog er sie ein, vergaß seine Traurigkeit über dem pulsierenden Leben draußen, das er zwar nicht sehen, aber spüren konnte. Die Krallen der Pest hatten sich gelockert und nur noch vereinzelt in den Vororten Opfer gefunden. Die Menschen schienen begierig nach Leben zu sein. Lachen und Fröhlichkeit wehte durch die Gassen, und auch der Geruch nach gebratenem Fleisch, nach Brot und Wein. Giordano hatte Hunger. Er lehnte das Fenster an und machte sich auf den Weg zu seinen Wirtsleuten, um nach etwas Essbarem zu fragen. Er hatte Glück. Die Familie saß um einen klobigen, länglichen Tisch versammelt. Giordano zählte fünf Kinder, das älteste mochte neun oder zehn Jahre alt sein. Eine Greisin, die sich rührend um das jüngste, wohl eben erst geborene kümmerte und es mit einer Art Brei fütterte, saß zahnlos dabei. In der Mitte des Tisches befand sich eine große Schüssel, deren Inhalt herrlich duftete. Die Hausfrau winkte Giordano näher, als sie ihn am Treppenabsatz verharren sah. Rasch war ein Teller für ihn mit einer köstlichen Hühnerbrühe gefüllt. Dazu gab es frisches Wasser und einen Wein, dessen Geschmack Giordano zuerst an den Schweiß seines Pferdes erinnerte. Doch nach und nach entfaltete der Wein sein volles Aroma. Die Familie und der Gast langten eifrig zu, und bald schwatzten alle fröhlich durcheinander. Die Sehnsucht nach der eigenen Familie und der Heimat war vergessen, die Freude auf das künftige Leben in der neuen Stadt machte sich breit. Dem Hausherrn, Hugo Valentin, schien der Gast ebenfalls zu gefallen, und er schenkte ihm eifrig nach. Die Kinder hatten ihre anfängliche Scheu überwunden und benutzten Giordano, nachdem die Suppenschüssel und Teller von den älteren artig abgetragen worden waren, als Klettergerüst. Der ließ das willig geschehen und freute sich mit den Kleinen, die laut glucksten, wenn er eines von ihnen packte und in die Luft hob. Madame Valentin hatte mittlerweile Käse, Brot, Nüsse und Weintrauben aufgetragen und verscheuchte nun die Kinder, damit der Gast sein Mahl in Ruhe fortsetzen konnte. Ein Glücksgefühl wie schon lange nicht mehr durchströmte Giordano. Als der Käse gegessen war, gab es noch Selbstgebackenes, und Monsieur Valentin holte eine Bastflasche, in der sich eine stark nach Alkohol riechende bräunliche Flüssigkeit befand. Er ließ Giordano erst an der großen, bauchigen Flasche riechen, bevor er dem Gast ein Glas voll eingoss.
„Cognac“, pfiff es durch die Zahnlücken. Giordano dachte an seinen Termin am nächsten Morgen an der Sorbonne. Aber er wollte nicht unhöflich sein, und so ließ er sich ein kleines Glas dieses fruchtig duftenden Gebräus einschenken. Vorsichtig nippte er erst daran und trank darauf das Glas in einem Zug aus. Er verzog das Gesicht und schüttelte dann kurz den Kopf.
„Non, non, Monsieur, so trinkt man das nicht.“ Monsieur Valentin lachte über seinen tölpelhaften Gast.
„Es ist Zeit, ich muss zu Bett.“ Giordanos Zunge war schwer. Er musste sich konzentrieren, die Worte richtig auszusprechen. Als er sich erhob, musste er sich kurz an der Tischkante festhalten, da ihm schwindlig war. Er bedankte sich für das reichhaltige Mahl und verabschiedete sich. Als er die Treppe zu seinem Zimmer hinaufsteigen wollte, musste er sich an der
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