Nacht des Ketzers
sich erst seiner Fußsohlen bemächtigten und sich langsam den Körper hoch fraßen ... und was danach käme. Seine Seele würde wandern. Aber wohin? Wo würde sie eine neue Heimat finden? Welche Aufgabe würde Gott ihr zuteilen? Was war mit den Menschen? Würden sie der Hinrichtung zusehen? Was würden sie empfinden? Würden sie, wie de Montaigne es ihm geschrieben hatte, erkennen, dass das, was sie sahen, grausam und des Menschen nicht würdig sei? Oder würden sie den Kirchenoberen Beifall zollen, dass wieder ein Abtrünniger weniger auf dieser Erde weilte? Dass ihr vorgegebener Glaube in Sicherheit war und durch keine Fragen oder gar Ideen gestört wurde? Egal, er konnte es ja doch nicht mehr beeinflussen. Nur das Warten zerrte an seinen Nerven. An seinem Schicksal würde er nun nichts mehr ändern können Aber eines würde er, wenn es so weit war: endlich wissen.
Kapitel 65
Guiseppe war etwa eine Woche unterwegs gewesen, bis er endlich die Stadtmauern Genfs sah. Von weitem schon konnte er auf dem Anger vor dem Haupttor eine große Menschenmenge ausmachen. Er näherte sich vorsichtig und versteckte sein Pferd in einem kleinen Waldstück. Je näher er kam, desto deutlicher konnte er die monotonen Trommelschläge vernehmen, die wieder einmal das nahe Ende eines unglücklichen Delinquenten ankündigten. Unauffällig mischte er sich unter die Menschenmenge, die wie gebannt auf das Stadttor starrte. Ein grausiger Totenzug bahnte sich den Weg durch die engen Gassen der Stadt. Als Erstes sah man Wachen mit geschulterten Lanzen und Armbrüsten, dahinter einen von einem Esel gezogenen Wagen, auf dem ein alter, weißhaariger Mann kniete. Sein Blick war wirr, so als nehme er gar nicht wahr, was mit ihm geschah. Er trug ein zerrissenes, weißes Leinenhemd, seine Hände waren auf den Rücken gebunden. Hinter dem Wagen sah Guiseppe die Mitglieder des Konsistoriums, und noch etwas sah er, was ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ. Der Richter de Leveré und ein zweiter Mann hatten Anna, die ohnmächtig zu sein schien, in ihre Mitte genommen. Ihre Beine schleiften auf dem Boden. Ein Raunen ging durch die Menge, das unter den gestrengen Blicken der Stadtoberen sofort wieder verstummte. Nur das Wiehern der Rösser, die auf ihren schaurigen Dienst warteten, war zu hören. Guiseppes Puls raste, er wollte sich auf de Leveré stürzen, Anna befreien und fliehen. Erst jetzt hörte er das Raunen der Umstehenden. Verstand endlich die entsetzliche Wahrheit. Es war Annas Vater, den sie zur Hinrichtung brachten. Fieberhaft suchte er nach einer Möglichkeit, das Kommende zu verhindern. Der Zug kam rasch näher. Wieder bildete sich ein großer Kreis, in dessen Mitte nun die Pferde geführt wurden. Der Richter selbst verlas den Urteilspruch, den Guiseppe nur bruchstückhaft mitbekam. Noch immer war ihm kein rettender Gedanke gekommen. Nach der Verkündung des Urteils ging de Leveré zurück zu Anna, die mittlerweile aus der Ohnmacht erwacht war, umfasste mit einem Arm ihren Oberkörper und zwang mit der freien Hand ihren Kopf in Richtung ihres Vaters. Er hielt ihr dabei den Mund zu, so dass Guiseppe nur ihre vor Schreck geweiteten Augen sehen konnte. Annas Vater ließ sich willenlos auf den Boden legen, und er wurde mit Seilen, die mit jeweils einem der vier Pferde verbunden waren, an Armen und Beinen festgebunden. Guiseppe raste. Er sah, dass er keine Chance hatte, den Unglücklichen zu retten. Beim ersten Peitschenhieb wandte er den Kopf ab und schloss die Augen, hörte nur die Pferde und das Knacken, als die Gelenke vom Körper gerissen wurden. Gleich darauf kehrte Totenstille ein. Als er die Augen wieder aufschlug, sah er, wie man Anna wegtrug. Langsam setzten sich die Genfer Bürger in Bewegung, um wie gewohnt wieder ihrem Tagwerk nachzugehen. Ein paar Männer sammelten die Leichenteile ein, um sie zur Mahnung für andere Abtrünnige an einem Baum vor der Stadt zu befestigen. Eine Schar Krähen wartete in sicherer Entfernung auf ihre Mahlzeit. Guiseppe folgte den Menschen in einigem Abstand, bestürzt darüber, was er gesehen hatte und dass er nicht hatte helfen können. Er bezog Quartier in der Nähe des Hauses des Richters und begann, einen Plan zu schmieden, wie er wenigstens die Geliebte noch in dieser Nacht aus den Klauen des Richters würde retten können. Diesmal durfte nichts schiefgehen. Dieses Mal musste er es tun, egal, was passierte. Er zitterte, hatte Angst, wünschte sich für kurze Zeit ganz weit weg, zu Giordano,
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