Nacht des Orakels
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Hier brach ich ab, um einen Happen zu essen (ein paar Cracker und eine Büchse Sardinen), und spülte den Snack mit ein paar Gläsern Wasser hinunter. Es ging schon auf fünf zu; Grace hatte zwar gesagt, sie käme zwischen sechs und halb sieben zurück, aber bis dahin wollte ich jede Minute ausnutzen und noch ein wenig Zeit mit dem blauen Notizbuch verbringen. Auf dem Rückweg zu meinem Arbeitszimmer am Ende des Flurs ging ich ins Bad, um noch rasch zu pinkeln und mir etwas Wasser ins Gesicht zu spritzen – voller Elan und bereit, mich wieder in die Geschichte zu stürzen. Aber gerade als ich aus dem Bad kam, ging die Wohnungstür auf, und Grace trat ein, blass und erschöpft. Eigentlich hatte sie ihre Cousine Lily nach Brooklyn mitnehmen wollen (geplant war, dass siebei uns zu Abend aß, auf dem Klappsofa im Wohnzimmer übernachtete und dann früh morgens nach New Haven aufbrach, wo sie im zweiten Jahr an der Yale University Architektur studierte), aber Grace war allein, und bevor ich fragen konnte, ob etwas nicht stimmte, sah sie mich mit mattem Lächeln an, lief mir durch den Flur entgegen, bog jedoch abrupt nach links ins Badezimmer ab. Kaum dort angekommen, sank sie vor der Toilette auf die Knie und erbrach sich.
Als die Flut verebbt war, half ich ihr hoch und führte sie ins Schlafzimmer. Sie war entsetzlich bleich, und da ich den rechten Arm um ihre Schulter und den linken um ihre Hüfte gelegt hatte, spürte ich, dass sie am ganzen Körper zitterte – als würde sie von leichten Stromstößen erschüttert. Vielleicht komme das vom chinesischen Essen gestern Abend, sagte sie, aber ich meinte, das könne nicht sein, denn ich habe ja das Gleiche gegessen wie sie, und mit meinem Magen sei alles in Ordnung. Wahrscheinlich ist bei dir was im Anzug, sagte ich. Ja, antwortete Grace, du wirst Recht haben, das muss irgendein Bazillus sein – sie benutzte dieses seltsame Wort, mit dem wir die unsichtbaren Erreger zu bezeichnen pflegen, die in der Stadt herumschweben und in die Blutbahnen und inneren Organe der Leute eindringen. Aber ich werde doch niemals krank, fügte Grace hinzu, während sie sich teilnahmslos von mir auskleiden und ins Bett legen ließ. Ich berührte ihre Stirn, die sich weder heiß noch kalt anfühlte, fischte dann das Thermometer aus der Nachttischschublade und steckte es ihr in den Mund. Ihre Temperatur war normal. Das ist ein gutes Zeichen, sagte ich. Schlaf mal eine Nacht lang ordentlich durch, dann geht’s dir morgen bestimmt besser. Worauf Grace antwortete:Morgen muss es mir besser gehen. Da habe ich einen wichtigen Termin, den darf ich nicht versäumen.
Ich machte ihr eine Tasse dünnen Tee und eine Scheibe trockenen Toast, saß dann ungefähr eine Stunde lang neben ihr am Bett und sprach mit ihr über Lily, die sie, nachdem Grace bei einer ersten Welle der Übelkeit auf die Damentoilette im Met gerannt war, in ein Taxi gesetzt hatte. Nach ein paar Schlucken Tee erklärte Grace, die Übelkeit verziehe sich allmählich – aber eine Viertelstunde später kam die nächste Welle, und wieder stürzte sie über den Flur zur Toilette. Nach dieser zweiten Attacke kam sie langsam zur Ruhe, aber erst nach dreißig, vierzig Minuten war sie so weit, dass sie einschlafen konnte. Bis dahin unterhielten wir uns ein wenig, schwiegen dann eine Weile, unterhielten uns wieder, und während der ganzen Zeit, bis sie schließlich einschlief, streichelte ich ihren Kopf. Es sei ein schönes Gefühl, Krankenschwester zu spielen, sagte ich, wenn auch nur für wenige Stunden. So lange Zeit seien die Rollen andersherum verteilt gewesen, dass ich ganz vergessen hätte, dass außer mir auch mal jemand anders im Haus krank sein könne.
«Du verstehst das nicht», sagte Grace. «Das ist meine Strafe für gestern Abend.»
«Strafe? Wovon redest du?»
«Weil ich dich gestern im Taxi so angeschnauzt habe. Ich habe mich ekelhaft benommen.»
«Nein, hast du nicht. Und selbst wenn, möchte ich bezweifeln, dass Gott sich an den Menschen rächt, indem er ihnen eine Darmgrippe schickt.»
Grace schloss die Augen und lächelte. «Du hast mich immer geliebt, Sidney, stimmt’s?»
«Vom allerersten Augenblick an.»
«Weißt du, warum ich dich geheiratet habe?»
«Nein. Ich hatte nie den Mut, danach zu fragen.»
«Weil ich wusste, dass du mich nie im Stich lassen würdest.»
«Da hast du auf das falsche Pferd gesetzt, Grace. Ich habe dich jetzt fast ein Jahr lang
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