Nacht des Orakels
im Stich gelassen. Erst werde ich krank und mache dir das Leben zur Hölle, und dann stürze ich uns mit neunhundert unbezahlten Arztrechnungen in Schulden. Ohne deine Arbeit säßen wir längst auf der Straße. Sie tragen mich auf Ihren Schultern, Ms. Tebbetts. Ich lasse mich von Ihnen aushalten.»
«Ich rede nicht vom Geld.»
«Das ist mir klar. Aber du hast trotzdem eine schwere Last zu tragen.»
«Nein, ich habe dir zu danken, Sid. Mehr als du ahnst – mehr als du jemals wissen wirst. Solange du nicht von mir enttäuscht bist, kann ich alles ertragen.»
«Das verstehe ich nicht.»
«Das brauchst du nicht zu verstehen. Wenn du mich nur weiter liebst, erledigt sich alles andere von selbst.»
Das war unser zweites verwirrendes Gespräch innerhalb von achtzehn Stunden. Wieder hatte Grace etwas angedeutet, was sie nicht genauer erklären wollte, etwas, was sie aufwühlte, was sie bedrückte, und ich konnte nur blöd und hilflos herumrätseln, was das wohl sein mochte. Und doch, wie zärtlich sie an diesem Abend war, wie freudig sie meine kleinen Hilfeleistungen akzeptierte, wie glücklich sie war, mich neben sich am Bett zu haben. Wenn ich daran dachte, was wir im vergangenen Jahr durchgemacht hatten und wie unerschütterlich und gefasst sie sich während meiner langen Krankheit gezeigthatte, schien es mir unmöglich, dass sie jemals etwas tun könnte, was mich enttäuschen würde. Und selbst wenn, war ich dumm und treu genug, mir keine Sorgen deswegen zu machen. Ich wollte bis ans Ende meines Lebens mit ihr verheiratet bleiben, und wenn Grace einmal einen Fehltritt gemacht oder sonst etwas getan hatte, worauf sie nicht stolz war – was konnte das auf lange Sicht schon ausmachen? Es kam mir nicht zu, über sie zu urteilen. Ich war ihr Mann, kein Beamter der Sittenpolizei, und ich wollte zu ihr halten, komme was da wolle.
Wenn du mich nur weiter liebst.
Das war einfach, und falls sie es sich nicht irgendwann einmal anders überlegte, hatte ich vor, mich ihren Wünschen bis zum letzten Ende zu fügen.
Kurz vor halb sieben schlief sie ein. Als ich auf Zehenspitzen aus dem Zimmer schlich und mir in der Küche noch ein Glas Wasser holen ging, war ich plötzlich froh, dass Lily nun doch nicht bei uns übernachtete und schon früher mit dem Zug nach New Haven zurückgefahren war. Nicht dass ich etwas gegen Graces jüngere Cousine gehabt hätte – tatsächlich mochte ich sie sehr und liebte den Akzent ihrer Heimat Virginia, der deutlich stärker war als bei Grace –, aber den ganzen Abend mit ihr Konversation zu machen, während Grace im Schlafzimmer lag, wäre etwas mehr gewesen, als ich hätte verkraften können. Ich hatte nicht damit gerechnet, noch einmal arbeiten zu können, wenn die beiden aus Manhattan zurückgekommen wären, aber da das Abendessen nun ausfiel, hielt mich nichts davon ab, wieder in das blaue Notizbuch hineinzuspringen. Es war noch früh; Grace schlief tief und fest; und nach der Minimahlzeit aus Crackern und Sardinen war mein Hunger gestillt. Also gingich wieder ans Ende des Flurs, setzte mich an den Schreibtisch und schlug zum zweiten Mal an diesem Tag das Notizbuch auf. Ohne ein einziges Mal aufzustehen, arbeitete ich bis halb vier Uhr morgens durch.
Es ist Zeit vergangen. Am folgenden Montag, sieben Tage nach Bowens Verschwinden, bekommt seine Frau die letzte Abrechnung für die gesperrte American-Express-Karte. Als sie die einzelnen Buchungen durchgeht und zur letzten ganz unten auf der Seite kommt – dem Flug mit Delta Airlines nach Kansas City am vorigen Montag –, begreift sie plötzlich, dass Nick noch am Leben ist, dass er noch am Leben sein muss. Aber warum Kansas City? Sie versucht sich vorzustellen, warum ihr Mann in eine Stadt geflogen ist, zu der er keinerlei Verbindung hat (keine Verwandten, keine von ihm betreuten Autoren, keine Freunde aus der Vergangenheit), kann sich aber kein einziges mögliches Motiv denken. Gleichzeitig beginnt sie an ihrer Annahme betreffend Rosa Leightman zu zweifeln. Das Mädchen lebt in New York, und falls Nick tatsächlich mit ihr durchgebrannt ist, warum dann ausgerechnet in den Mittleren Westen? Es sei denn, natürlich, Rosa Leightman stammt ursprünglich aus Kansas City, aber das kommt Eva ziemlich weither geholt vor, die am wenigsten plausible Erklärung von allen.
Sie hat keine Theorien, keine Mutmaßungen mehr, auf die sie sich stützen könnte, und die Wut, die seit einer Woche in ihr getobt hat, legt sich nach und nach
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