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Nacht des Orakels

Nacht des Orakels

Titel: Nacht des Orakels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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undverschwindet schließlich ganz. Aus der nun folgenden Leere und Verwirrung entsteht ein neues Gefühl, dem sie sich hingeben kann: Hoffnung, oder etwas Ähnliches wie Hoffnung. Nick ist am Leben, und da in der Kreditkartenabrechnung der Kauf lediglich eines Tickets ausgewiesen ist, kann man fast davon ausgehen, dass er allein ist. Eva ruft bei der Polizei in Kansas City an und lässt sich mit der Vermisstenstelle verbinden, aber der zuständige Sergeant ist alles andere als hilfreich. Ehemänner verschwinden tagtäglich, sagt er, und wenn es keinen Hinweis auf ein Verbrechen gibt, kann die Polizei nichts machen. Der Verzweiflung nah, macht Eva schließlich ihrer Anspannung und Qual der vergangenen Tage Luft, sagt dem Sergeant, er sei ein kaltherziger Mistkerl, und legt auf. Sie will selbst nach Kansas City fliegen und Nick suchen. Zu erregt, um noch tatenlos herumsitzen zu können, beschließt sie noch am selben Abend abzureisen.
    Sie ruft ihren Anrufbeantworter im Büro an, gibt ihrer Sekretärin ausführliche Anweisungen für die in dieser Woche anstehenden Aufgaben und erklärt dann, sie habe sich um eine dringende Familienangelegenheit zu kümmern. Sie müsse kurzfristig verreisen, sagt sie, werde aber telefonisch Kontakt halten. Bis jetzt hat sie noch niemandem von Nicks Verschwinden erzählt, nur der New Yorker Polizei, die freilich nichts für sie tun konnte. Ihre Freunde und Mitarbeiter aber hat sie im Dunkeln gelassen, nicht einmal ihren Eltern gegenüber hat sie etwas davon erwähnt, und als ab Dienstag die Anrufe aus Nicks Büro kamen und man sich nach seinem Verbleib erkundigte, wimmelte sie die Fragen mit der Behauptung ab, er habe sich einen Magen-Darm-Virus zugezogen und liege im Bett. Am nächsten Montag, als er längst schon wiedergesund und bei der Arbeit sein sollte, sagte sie den Anrufern, es gehe ihm schon viel besser, aber am Wochenende sei seine Mutter nach einem schlimmen Sturz ins Krankenhaus eingeliefert worden, und er sei nach Boston geflogen, um ihr beizustehen. Diese Lügen dienten lediglich dem Selbstschutz, ihr Motiv war Verlegenheit, Demütigung und Angst. Was war sie für eine Ehefrau, wenn sie keine Auskunft über den Aufenthalt ihres Mannes geben konnte? Die Wahrheit war ein Sumpf von Ungewissheit, und der Gedanke, irgendjemandem zu gestehen, dass Nick sie verlassen hatte, kam ihr gar nicht erst in den Sinn.
    Bewaffnet mit einigen jüngeren Fotos von Nick, packt sie einen kleinen Koffer, bucht telefonisch ein Ticket für den Flug um halb zehn und fährt nach LaGuardia. Als sie ein paar Stunden später in Kansas City landet, nimmt sie ein Taxi und lässt sich vom Fahrer ein Hotel empfehlen, wobei sie beinahe wortwörtlich wiederholt, was ihr Mann am Montag zuvor Ed Victory gefragt hat. Der einzige Unterschied ist, dass sie nicht nach dem
besten,
sondern nach einem
guten
fragt, aber trotz dieser Abweichung ist die Antwort des Fahrers dieselbe. Er bringt sie zum Hyatt, und ohne zu ahnen, dass sie sich in den Fußstapfen ihres Mannes bewegt, checkt Eva am Empfang ein und lässt sich ein Einzelzimmer geben. Sie ist nicht der Typ Frau, die ihr Geld zum Fenster hinauswirft und sich teure Suiten leistet, aber trotzdem liegt ihr Zimmer in der zehnten Etage, nur wenige Schritte von dem entfernt, in dem Nick die ersten beiden Nächte nach seiner Ankunft in der Stadt verbracht hat. Einmal davon abgesehen, dass ihr Zimmer den Bruchteil eines Grades weiter südlich liegt als seins, hat sie denselben Blick auf die Stadt, wieer ihn hatte: dieselben Gebäude, dasselbe Netzwerk der Straßen, derselbe Himmel voller Wolken, alles, was er Rosa Leightman aufgezählt hat, als er am Fenster stand und auf ihren Anrufbeantworter sprach, bevor er die Zeche prellte und heimlich das Hotel verließ.
    Eva schläft nicht gut in dem fremden Bett, ihr Hals ist trocken, und drei- oder viermal wacht sie auf, um auf die Toilette zu gehen, ein Glas Wasser zu trinken, die roten Leuchtziffern des Digitalweckers anzustarren und dem Surren der Ventilatoren in den Lüftungsklappen zu lauschen. Um fünf nickt sie ein, schläft drei Stunden lang ununterbrochen und lässt sich dann vom Zimmerservice das Frühstück bringen. Um viertel nach neun fährt sie, bereits geduscht und angezogen und gestärkt von einer ganzen Kanne schwarzen Kaffees, mit dem Aufzug nach unten und startet ihre Suchaktion. Evas Hoffnungen klammern sich ausschließlich an die Fotos, die sie in ihrer Tasche trägt. Sie will durch die Stadt ziehen und

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