Nacht des Orakels
möglichst vielen Leuten Nicks Bild zeigen, zunächst in Hotels und Restaurants, dann in Geschäften und Supermärkten, dann sollen Taxiunternehmen, Bürogebäude und weiß Gott was sonst noch drankommen; irgendwer muss ihn doch gesehen und einen Hinweis zu geben haben. Falls sich am ersten Tag nichts ergibt, will sie von einem der Fotos Kopien anfertigen lassen und die in der ganzen Stadt aufhängen – an Mauern, Laternenpfählen und Telefonzellen –, und schließlich soll der
Kansas City Star
und jede andere Zeitung in der Gegend das Bild abdrucken. Schon als sie im Aufzug nach unten fährt, formuliert sie den Text, der auf dem Handzettel stehen soll. VERMISST. Oder: HABEN SIE DIESEN MANN GESEHEN? Dann Nicks Name, Alter, Größe, Gewichtund Haarfarbe. Dazu eine Telefonnummer und der Hinweis auf eine Belohnung. Als die Aufzugtür aufgeht, ist sie sich noch unschlüssig, welchen Betrag sie anbieten soll. Eintausend Dollar? Fünftausend Dollar? Zehntausend Dollar? Falls diese Strategie nichts bringt, sagt sie sich, wird sie zum nächsten Schritt übergehen und einen Privatdetektiv anheuern. Nicht irgendeinen ehemaligen Polizisten mit Ermittlerlizenz, sondern einen Experten, einen Mann, der sich auf die Jagd nach den verschwundenen, den abhanden gekommenen Wesen dieser Welt spezialisiert hat.
Drei Minuten nachdem Eva das Foyer betreten hat, geschieht etwas Wundersames. Sie zeigt Nicks Foto der Empfangsdame, und die junge blonde Frau mit den strahlend weißen Zähnen erkennt ihn eindeutig wieder. Das führt zu einer Durchsicht der Aufzeichnungen, und selbst beim Schneckentempo der Computer von 1982 dauert es nicht lange, bis feststeht, dass Nick Bowen sich in dem Hotel eingetragen und dort zwei Nächte verbracht hat und dann ohne zu bezahlen einfach verschwunden ist. Sie hatten eine Kopie seiner Kreditkarte bei den Akten, aber die Karte hatte sich nach Prüfung durch American Express als ungültig erwiesen. Eva verlangt den Geschäftsführer zu sprechen, um Nicks Rechnung zu bezahlen, und als sie in seinem Büro sitzt und ihm zur Begleichung des ausstehenden Betrags ihre gerade erst erneuerte Kreditkarte gibt, beginnt sie zu weinen, bricht nun wirklich zum ersten Mal, seit ihr Mann verschwunden ist, zusammen. Mr. Lloyd Sharkey fühlt sich von diesem Ausbruch weiblichen Schmerzes unangenehm berührt, bietet Mrs. Bowen aber mit dem aalglatten, salbungsvollen Gebaren eines kampferprobten Dienstleistungsprofisan, alles in seiner Macht Stehende für sie zu tun. Kurz darauf ist Eva wieder in der zehnten Etage und spricht mit dem mexikanischen Zimmermädchen, das für die Reinigung von Zimmer 1046 zuständig ist. Die Frau erzählt ihr, dass während der gesamten Dauer von Nicks Aufenthalt das Schild BITTE NICHT STÖREN an seiner Tür gehangen und sie ihn nie gesehen habe. Zehn Minuten später spricht Eva unten in der Küche mit Leroy Washington, dem Zimmerservicekellner, der Nick einige Mahlzeiten gebracht hat. Er erkennt Evas Mann auf dem Foto und fügt hinzu, Mr. Bowen habe großzügig Trinkgeld gegeben, allerdings habe er nicht viel gesagt und den Eindruck gemacht, als «beschäftige» ihn etwas. Eva fragt, ob Nick allein oder mit einer Frau zusammen gewesen sei. Allein, sagt Washington. Es sei denn, fährt er fort, es habe sich eine Dame im Bad oder im Kleiderschrank versteckt, aber die Mahlzeiten seien immer nur für eine Person gewesen, und soweit er das beurteilen könne, sei auch immer nur eine Seite des Betts benutzt gewesen.
Nachdem sie seine Hotelrechnung beglichen hat und sich nahezu sicher sein kann, dass er nicht mit einer anderen Frau durchgebrannt ist, beginnt Eva sich wieder wie eine Ehefrau zu fühlen, eine echte Ehefrau, die alles tut, um ihren Mann zu finden und ihre Ehe zu retten. Ihre Gespräche mit anderen Angestellten des Hyatt Regency bringen keine weiteren Informationen. Sie hat nicht den geringsten Anhaltspunkt, wohin Nick gegangen sein könnte, nachdem er das Hotel verlassen hat, und doch fühlt sie sich ermutigt, als ließe sich die Tatsache, dass er hier gewesen ist, an demselben Ort, an dem sie sich jetzt befindet, als Hinweis darauf deuten, dass er nicht weitweg sein könne – auch wenn es sich nur um eine vage Überschneidung handelt, eine räumliche Übereinstimmung, die nichts zu besagen hat.
Als sie dann jedoch auf die Straße tritt, schmettert die Hoffnungslosigkeit ihrer Situation sie aufs Neue nieder. Denn es bleibt ja dabei, dass Nick ohne ein Wort fortgegangen ist –
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