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Nacht des Orakels

Nacht des Orakels

Titel: Nacht des Orakels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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dass er sie, seine Arbeit und alles andere in New York verlassen hat   –, und die einzige Erklärung, die ihr fürs Erste einfällt, ist die, dass er in einer schweren Krise steckt, dass er womöglich einen schlimmen Nervenzusammenbruch erlitten hat. Hat das Leben mit ihr ihn so unglücklich gemacht? Lag es an ihr, dass er einen so drastischen Schritt tun musste, hat sie ihn derart zur Verzweiflung getrieben? Ja, sagt sie sich, so wird es wohl gewesen sein. Und was alles noch schlimmer macht, er hat kein Geld. Halb verrückt vor Kummer, streift er, eine arme Seele, ziellos und ohne einen Penny in der Tasche durch die Stadt. Und auch das ist ihre Schuld, sagt sie sich, sie allein ist schuld an dieser ganzen schlimmen Geschichte.
    Am selben Vormittag, an dem Eva ihre aussichtslosen Nachforschungen in den Restaurants und Geschäften der Innenstadt von Kansas City beginnt, fliegt Rosa Leightman nach New York zurück. Als sie um ein Uhr in Chelsea ihre Wohnungstür aufschließt, erblickt sie als erstes Evas Zettel auf der Schwelle. Konsterniert, vom dringenden Ton der Nachricht aus der Fassung gebracht, stellt sie ihren Koffer ab, ohne ihn auszupacken, und ruft die erste der beiden Nummern auf dem Zettel an. Niemand meldet sich in der Wohnung an der Barrow Street, aber sie hinterlässt eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter: sie sei verreist gewesen, jetzt aber wieder unter ihrer Privatnummerzu erreichen. Dann ruft sie in Evas Büro an. Die Sekretärin teilt ihr mit, Mrs.   Bowen sei geschäftlich unterwegs, aber wenn sie sich am Nachmittag wie vereinbart telefonisch melde, werde die Nachricht an sie weitergeleitet. Rosa steht vor einem Rätsel. Sie hat Nick Bowen nur ein einziges Mal gesehen und weiß gar nichts über ihn. Das Gespräch in seinem Büro war außerordentlich gut gelaufen, fand sie, und auch wenn sie gespürt hatte, dass er sich zu ihr hingezogen fühlte (das sah sie ihm an den Augen an, das sagten ihr die Blicke, mit denen er sie ständig bedachte), hatte er sich ihr gegenüber zurückhaltend und wie ein Gentleman verhalten, vielleicht sogar ein wenig distanziert. Er wirkte eher verloren als draufgängerisch, erinnert sie sich, ein unverkennbarer Anflug von Trauer umgab ihn. Verheiratet, wie sie jetzt weiß, also verbotenes Territorium, jemand, der für sie nicht in Frage kam. Aber irgendwie anrührend, ein sympathischer Typ mit einem freundlichen Wesen.
    Sie packt ihren Koffer aus und sieht die Post durch, erst dann hört sie den Anrufbeantworter ab. Inzwischen ist es kurz vor zwei, und das Erste, was sie hört, ist Bowens Stimme: er erklärt ihr seine Liebe und bittet sie, zu ihm nach Kansas City zu kommen. Starr vor Schreck hört Rosa sich das an, vollkommen verwirrt. Was Nick da zu ihr sagt, bringt sie so aus der Fassung, dass sie das Band zweimal zurückspulen muss, ehe sie ganz sicher ist, dass sie Ed Victorys Telefonnummer richtig notiert hat – trotz der gleichmäßig absteigenden Ziffernfolge, die es nahezu unmöglich macht, diese Nummer zu vergessen. Sie ist versucht, den Anrufbeantworter auszustellen und sofort in Kansas City anzurufen, beschließt dann aber, vorher die anderen vierzehn Anrufe abzuhören, um zusehen, ob Nick sich noch einmal gemeldet hat. Das hat er. Am Freitag, und noch einmal am Sonntag. «Ich hoffe, mein Anruf neulich hat Sie nicht abgeschreckt», beginnt die zweite Nachricht, «aber es war mir vollkommen ernst damit. Ich kann Sie mir nicht aus dem Kopf schlagen. Ich muss ständig an Sie denken, und auch wenn Sie kein Interesse an mir zu haben scheinen – was sonst kann Ihr Schweigen bedeuten?   –, wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie mich einmal anrufen würden. Wenn schon über nichts anderes, können wir wenigstens über das Buch Ihrer Großmutter reden. Wählen Sie Eds Nummer, die ich Ihnen bereits genannt habe: 816   -   765   -   4321.   Übrigens handelt es sich bei dieser Nummer nicht um einen Zufall. Ed hat sie eigens beantragt. Er sagt, das sei eine Metapher – wofür, weiß ich nicht. Ich nehme an, er möchte, dass ich das selbst herausfinde.» Die letzte Nachricht ist die kürzeste der drei; inzwischen hat Nick die Hoffnung praktisch aufgegeben. «Ich bin’s», sagt er, «ich versuch’s noch ein letztes Mal. Bitte rufen Sie mich an, und sei es auch nur, um mir zu sagen, dass Sie nicht mit mir reden wollen.»
    Rosa wählt Ed Victorys Nummer, aber dort meldet sich niemand, und nachdem sie es über ein Dutzend Mal hat klingeln lassen, vermutet sie,

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