Nacht des Orakels
dass es sich hier um ein altes Telefon ohne Anrufbeantworter handelt. Ohne sich die Zeit zu nehmen, ihre Gefühle zu analysieren (sie weiß gar nicht, was sie fühlt), legt Rosa in der Überzeugung auf, sie habe die moralische Verpflichtung, mit Bowen Kontakt aufzunehmen – und zwar so schnell wie möglich. Sie überlegt, ob sie ein Telegramm schicken soll, doch als sie die Auskunft in Kansas City anruft und nach Eds Adresse fragt, teilt man ihr mit, seine Nummer stehe nicht im Verzeichnis, und daher dürfe man ihr diegewünschte Auskunft nicht erteilen. Darauf versucht Rosa es erneut in Evas Büro, in der Hoffnung, dass Nicks Frau sich inzwischen gemeldet hat, aber die Sekretärin sagt ihr, es gebe keine Neuigkeiten. Wie die Dinge stehen, nimmt das Drama in Kansas City Eva so mit, dass sie tagelang vergisst, bei sich im Büro anzurufen, und als sie dann endlich doch mit ihrer Sekretärin spricht, sitzt Rosa längst in einem Greyhound Bus auf dem Weg nach Kansas City. Warum fährt sie da hin? Weil sie in diesen Tagen fast hundert Mal versucht hat, Ed Victory anzurufen und niemand ans Telefon gegangen ist. Weil sie sich mangels jeder weiteren Nachricht von Nick in die Vermutung hineingesteigert hat, er stecke in Schwierigkeiten – womöglich in ernsten, lebensbedrohlichen Schwierigkeiten. Weil sie jung und abenteuerlustig ist und zur Zeit keine Arbeit hat (zwischen zwei Aufträgen als freischaffende Illustratorin), und vielleicht auch – man kann hier nur spekulieren –, weil die Vorstellung sie begeistert, dass ein Mann, den sie kaum kennt, ihr offen gestanden hat, er müsse unaufhörlich an sie denken, dass sie einen Mann dazu gebracht hat, sich auf den ersten Blick in sie zu verlieben.
An dieser Stelle schaltete ich zum vorigen Mittwoch zurück, zu dem Nachmittag, an dem Bowen die Treppe zu Eds Pensionszimmer hochstieg und einen Job als Helfer im Büro für Geschichtspflege angeboten bekam, und setzte die Chronik meines modernen Flitcraft fort.
Ed knöpft sich die Hose zu, drückt seine halb gerauchte Pall Mall aus und führt Nick die Treppe hinunter. Sietreten in die kalte Luft des Frühlingsnachmittags hinaus, und nun gehen sie neun oder zehn Blocks weit, biegen mal nach links, mal nach rechts, bewegen sich langsam durch ein Netzwerk verfallener Straßenzüge und erreichen schließlich einen verlassenen Viehhof in der Nähe des Flusses, der flüssigen Grenze, die die Missouri-Seite der Stadt von der Kansas-Seite trennt. Sie gehen weiter, bis sie das Wasser unmittelbar vor sich haben und keine Gebäude mehr zu sehen sind, nur noch ein halbes Dutzend Eisenbahngeleise, die alle parallel zueinander verlaufen und nicht mehr in Betrieb zu sein scheinen, jedenfalls sind die Schienen mit Rost überzogen, und auf dem Sand und Schotter daneben liegen haufenweise zerbrochene und zersplitterte Schwellen. Ein kräftiger Wind weht vom Fluss her, als die beiden Männer über den ersten Schienenstrang steigen, und Nick denkt unwillkürlich an den Wind, der am Montagabend durch New York wehte, kurz bevor der Wasserspeier von dem Gebäude stürzte und ihn um ein Haar erschlagen hätte. Keuchend von der Anstrengung des langen Fußmarschs, bleibt Ed, als sie den dritten Schienenstrang überqueren, plötzlich stehen und zeigt auf den Boden. In den Schotter ist eine verwitterte, nicht gestrichene Holzplatte eingelassen, eine Art Luke oder Falltür, die sich so unauffällig in die Umgebung einfügt, dass Nick selbst sie wahrscheinlich gar nicht bemerkt hätte. Seien Sie bitte so freundlich und heben Sie das Ding da hoch und legen es beiseite, bittet ihn Ed. Ich würde das selbst tun, aber ich bin in letzter Zeit so fett geworden, ich hab das Gefühl, ich kann mich nicht mehr bücken, ohne vornüberzukippen.
Nick erfüllt die Bitte seines neuen Arbeitgebers, und schon steigen die beiden Männer eine an einer Betonwandbefestigte Eisenleiter hinunter. Etwa vier Meter unter der Erdoberfläche stoßen sie auf Grund. Dank des von oben durch die Luke hereinfallenden Lichts erkennt Nick, dass sie in einem engen Gang vor einer kahlen Sperrholztür stehen. Die Tür hat weder Klinke noch Knauf, nur rechts ungefähr in Brusthöhe ein Vorhängeschloss. Ed nimmt einen Schlüssel aus der Tasche und steckt ihn in das Loch am Boden des Gehäuses. Als die Verriegelung gelöst ist und er das Vorhängeschloss in der Hand hält, schnippt er den Riegel mit dem Daumen zur Seite und hakt das freie Ende des Bügels wieder in die Öse des
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