Nacht des Orakels
Grace arbeitete im Verlagswesen und bezog folglich ein bestenfalls mageres Gehalt, und ich selbst hatte seit fast einem Jahr so gut wie keine Einkünfte mehr gehabt. Ein paar mikroskopisch winzige Tantiemenzahlungen und Auslandsvorschüsse, aber das war’s auch schon. Das erklärt, warum ich Mary nach Abhören ihrer Nachricht sofort zurückgerufen habe. Ich hatte nie daran gedacht, noch einmal Drehbücher zu schreiben, aber wenn der Preis für das hier stimmte, hatte ich nicht die Absicht, den Auftrag abzulehnen.
«Ausgezeichnet», sagte ich. «Von gelegentlichen Flauten und Rückschlägen abgesehen, geht’s mir ziemlich gut. Es wird mit jeder Woche besser.»
«Es gibt da ein Gerücht, du hättest wieder zu schreiben angefangen. Stimmt das?»
«Wer hat dir das erzählt?»
«John Trause. Er hat heute Morgen angerufen, und zufällig sind wir auf dich zu sprechen gekommen.»
«Es stimmt. Aber ich weiß noch nicht, wohin die Sache läuft. Womöglich ins Leere.»
«Das wollen wir doch nicht hoffen. Ich habe den Filmleuten erzählt, du hättest einen neuen Roman angefangen und wärst wahrscheinlich nicht interessiert.»
«Aber ich bin interessiert. Sehr interessiert. Vor allem, wenn viel Geld dabei rausspringt.»
«Fünfzigtausend Dollar.»
«Du liebe Zeit. Mit fünfzigtausend Dollar wären Grace und ich aus dem Schneider.»
«Das ist ein idiotisches Projekt, Sid. Überhaupt nicht dein Ding. Science-Fiction.»
«Ah. Verstehe. Nicht gerade mein Fachgebiet, ja? Aber geht es um fiktive Wissenschaft oder wissenschaftliche Fiktion?»
«Wo ist da der Unterschied?»
«Keine Ahnung.»
«Die planen ein Remake von
Die Zeitmaschine
.»
«H. G. Wells?»
«Ganz recht. Als Regisseur ist Bobby Hunter vorgesehen.»
«Der immer diese aufwendigen Actionfilme macht? Was weiß der über mich?»
«Er ist ein Fan von dir. Anscheinend hat er alle deine Bücher gelesen, und die Verfilmung von
Tabula Rasa
hat ihm sehr gefallen.»
«Ich sollte mich jetzt wohl geschmeichelt fühlen. Aber ich kapiere das immer noch nicht. Warum ich? Ich meine, warum ich für dieses Projekt?»
«Keine Sorge, Sid. Ich rufe die an und sage nein.»
«Lass mir ein paar Tage Zeit zum Nachdenken. Ich will das Buch lesen und sehen, was passiert. Man kann nie wissen. Vielleicht fällt mir ja was Gutes ein.»
«Okay, du bist der Boss. Ich sage denen also, du denkst darüber nach. Keine Versprechungen, aber du willst es dir immerhin durch den Kopf gehen lassen.»
«Ich bin mir ziemlich sicher, dass das Buch hier irgendwo in der Wohnung herumsteht. Ein altes Taschenbuch, das ich mir in der Highschool gekauft habe. Ich fang gleich an zu lesen und ruf dich morgen oder übermorgen an.»
Das Taschenbuch hatte 1961 fünfunddreißig Cent gekostet und enthielt zwei von Wells’ frühen Romanen:
Die Zeitmaschine
und
Krieg der Welten. Die Zeitmaschine
war keine hundert Seiten lang, und nach einer guten Stunde war ich mit der Lektüre fertig. Die Erzählung enttäuschte mich gründlich – für mich war das ein plumpes, schlecht geschriebenes Buch, Gesellschaftskritik, die sich als Abenteuergeschichte tarnte, aber weder so noch so etwas taugte. Es schien mir ausgeschlossen, dass irgendjemand das eins zu eins würde verfilmen wollen. Eine solche Fassung gab es ja bereits, und wenn dieser Bobby Hunter mit meiner Arbeit tatsächlich so vertraut war, wie er behauptete, konnte er von mir nur erwarten, dass ich die Geschichte in eine andere Richtung biege, dass ich aus dem Buch herausspringe und eine Idee entwickle, wie man aus dem Stoff etwas Neues machen könnte. Warum sonst hätte er ausgerechnet mich gefragt? Es gab Hunderte von professionellen Drehbuchautoren, die mehr Erfahrung hatten als ich. Jeder von ihnen hätte aus Wells’ Roman ein akzeptables Drehbuch machen können – das, stellte ich mir vor, auf etwas Ähnliches hinausgelaufen wäre wie die Verfilmung mit Rod Taylor und Yvette Mimieux, die ich als Kind gesehen hatte, nur mit aufregenderen Spezialeffekten.
Wenn mich an dem Buch überhaupt etwas fesselte, dann war es die Täuschung, auf der das Ganze beruhte, die Idee der Zeitreise als solcher. Aber irgendwie hatte Wells es geschafft, auch das zu verpfuschen, fand ich. Er schickt seinen Helden in die Zukunft, aber je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr war ich davon überzeugt, dass die meisten von uns lieber in die Vergangenheit reisen würden. Trauses Geschichte von seinem Schwagerund dem 3- D-Betrachter war ein gutes Beispiel dafür,
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