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Nacht des Orakels

Nacht des Orakels

Titel: Nacht des Orakels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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dessen Adresse Wejnerta 19 lautete – Janina und Stefan Orlowscy. Das war die polnische Schreibweise meines Nachnamens, und obwohl ich nicht sagen konnte, ob diese Leute mit mir verwandt waren, hatte ich das Gefühl, es könne gut sein.

    IN EINER TOILETTE GEBOREN, BABY WEGGEWORFEN
    Im Crackrausch hat nach Polizeiangaben eine 2 2-jährige Prostituierte in der Bronx über einer Toilette in einer Absteige ein totes Kind zur Welt gebracht und es anschließend auf der Straße in eine Mülltonne geworfen.
    Die Frau hatte nach Polizeiangaben gestern Nacht gegen ein Uhr Sex mit einem Freier, verließdabei einmal kurz das Zimmer in der Pension 450   Cyrus Pl., um auf der Toilette Crack zu rauchen. Als sie auf der Toilette saß, spürte die Frau nach Darstellung von Sgt. Michael Ryan, «dass Wasser lief, dass etwas herauskam».
    Aber die cracksüchtige Frau war sich nach Polizeiangaben offenbar nicht bewusst, dass sie ein Kind geboren hatte.
    Zwanzig Minuten später bemerkte die Frau das tote Baby in der Schüssel, wickelte es in ein Handtuch und warf es in eine Mülltonne. Danach kehrte sie zu ihrem Kunden zurück und hatte erneut Geschlechtsverkehr, so Ryan. Anschließend kam es jedoch zum Streit wegen der Bezahlung, in dessen Verlauf die Frau nach Polizeiangaben gegen 1   Uhr 15 ihrem Kunden ein Messer in die Brust stach.
    Nach Polizeiangaben flüchtete die als Kisha White identifizierte Frau in ihre Wohnung an der 188th Street. Später ging White zu der Mülltonne zurück und holte ihr Baby wieder heraus. Ein Nachbar beobachtete sie jedoch dabei und rief die Polizei.
     
    Als ich den Artikel zum ersten Mal gelesen hatte, sagte ich mir:
Das ist die schlimmste Geschichte, die mir je untergekommen ist.
Es war schon schwer genug, die Information über das Baby zu verarbeiten, aber als ich im vierten Absatz zu der Sache mit dem Messer kam, begriff ich, dass ich eine Geschichte vom Ende der Menschheit las, dass exakt dieses Zimmer in der Bronx der Ort in der Weltwar, an dem das menschliche Leben seinen Sinn verloren hatte. Ich legte eine kurze Pause ein, versuchte wieder zu Atem zu kommen und mein Zittern in den Griff zu kriegen, und dann las ich den Artikel ein zweites Mal. Jetzt traten mir Tränen in die Augen. Und zwar so plötzlich, so unerwartet, dass ich im selben Moment die Hände vors Gesicht hob, damit niemand mich weinen sah. Wäre es in dem Coffeeshop nicht so voll gewesen, ich glaube, ich wäre in lautes Schluchzen ausgebrochen. So weit ging ich nun nicht, aber ich musste meine ganze Kraft aufbieten, um mich zurückzuhalten.
    Ich machte mich durch den Regen auf den Weg nach Hause. Nachdem ich mich aus den nassen Sachen geschält und mir etwas Trockenes angezogen hatte, ging ich in mein Arbeitszimmer, setzte mich an den Schreibtisch und schlug das blaue Notizbuch auf. Nicht dort, bis wohin ich beim Schreiben gekommen war, sondern die letzte Seite, gegenüber dem hinteren Umschlagdeckel. Der Artikel hatte so viel in mir aufgewühlt, dass ich irgendetwas schreiben musste, um gegen das Elend anzugehen, in das er mich gestürzt hatte. Etwa eine Stunde lang schrieb ich in das Notizbuch, von hinten nach vorn, begann auf Seite sechsundneunzig, ging dann zu Seite fünfundneunzig über, und so weiter. Als ich meine kleine Predigt fertig hatte, klappte ich das Notizbuch zu, stand vom Schreibtisch auf und begab mich durch den Flur zur Küche. Ich goss mir ein Glas Orangensaft ein, und als ich den Tetrapack in den Kühlschrank zurückstellte, fiel mein Blick zufällig auf das Telefon, das auf einem kleinen Tisch in der Ecke stand. Zu meiner Überraschung blinkte der Anrufbeantworter. Als ich vom Lunch bei Rita’s nach Hause gekommen war, waren dort keine Nachrichten drauf gewesen, und jetzt gleichzwei. Seltsam. Belanglos, mag sein, aber seltsam. Denn Tatsache war, dass ich das Telefon nicht hatte läuten hören. War ich so ins Schreiben vertieft gewesen, dass ich das Geräusch nicht wahrgenommen hatte? Möglich. Aber wenn es so war, dann war es mir jedenfalls zum ersten Mal passiert. Unser Telefon hatte eine besonders laute Klingel, die mühelos den ganzen Flur hinunter bis in mein Arbeitszimmer drang – auch bei geschlossener Tür.
    Die erste Nachricht war von Grace. Sie stehe schwer unter Termindruck und würde erst gegen halb acht oder acht aus dem Büro kommen. Falls ich Hunger bekäme, sagte sie, solle ich ohne sie mit dem Abendessen anfangen, sie wärme sich dann später die Reste auf.
    Die zweite Nachricht war von

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