Nacht des Orakels
wie mächtig uns die Toten im Griff halten können. Die Entscheidung, vorwärts oder rückwärts zu reisen, wäre mir jedenfalls leicht gefallen. Ich hätte mich viel lieber unter den nicht mehr Lebenden als unter den noch nicht Geborenen wieder gefunden. Die Geschichte gibt uns so viele Rätsel auf – wie kann man da nicht neugierig sein, wie die Welt, sagen wir, im Athen des Sokrates oder im Virginia eines Thomas Jefferson ausgesehen hat? Oder man denke an Trauses Schwager: Wie kann man dem Drang widerstehen, den Menschen wieder zu begegnen, die man verloren hat? Mutter und Vater zum Beispiel an dem Tag sehen, an dem sie sich kennen gelernt haben, oder mit den Großeltern sprechen, als sie kleine Kinder waren. Würde irgendjemand diese Gelegenheit ausschlagen, um stattdessen einen Blick in eine unbekannte und unbegreifliche Zukunft zu werfen? Lemuel Flagg hatte in
Nacht des Orakels
die Zukunft gesehen, und das hatte ihn vernichtet. Wir wollen nicht wissen, wann wir sterben oder wann die Menschen, die wir lieben, uns verraten. Vielmehr wollen wir wissen, wie die Toten waren, bevor sie tot waren, wir wollen uns mit den Toten als Lebenden vertraut machen.
Mir war klar, dass Wells seinen Helden in eine spätere Zeit schicken musste, schließlich wollte er die Ungerechtigkeiten des englischen Klassensystems anprangern, die, in die Zukunft extrapoliert, die krassesten Ausmaße annehmen mochten; aber auch wenn man ihm das zugestand, gab es mit dem Buch noch ein weiteres, ernsteres Problem. Wenn jemand am Ende des neunzehnten Jahrhunderts in London eine Zeitmaschine erfinden konnte, dann lag doch die Vermutung nahe, dass andere Leute inder Zukunft das ebenfalls tun würden. Und wenn nicht aus eigener Kraft, dann eben mit Hilfe des Zeitreisenden. Und wenn Angehörige künftiger Generationen kreuz und quer durch Jahre und Jahrhunderte reisen konnten, dann wären Vergangenheit und Zukunft voller Leute, die nicht in die Zeit gehörten, die sie gerade besuchten. Am Ende wären alle Zeiten überrannt und überlaufen von Störenfrieden und Touristen aus anderen Epochen, und wenn es erst einmal damit losging, dass Besucher aus der Zukunft Ereignisse in der Vergangenheit und Besucher aus der Vergangenheit Ereignisse in der Zukunft beeinflussten, würde sich die Natur der Zeit verändern. Die Zeit wäre dann nicht mehr ein kontinuierliches Fortschreiten einzelner Momente in einer und nur einer Richtung, sondern würde zu einem ungeheuren synchronen Nebelfleck verschwimmen. Schlicht gesagt, sobald ein einziger Mensch sich auf eine Zeitreise begäbe, wäre die Zeit, wie wir sie kennen, aus den Angeln gehoben.
Trotzdem, fünfzigtausend Dollar waren eine Menge Geld, und ein paar logische Fehler sollten mich nicht davon abhalten, es mir zu holen. Ich legte das Buch weg und wanderte in der Wohnung umher, ging von einem Zimmer ins andere, überflog die Titel der Bücher in den Regalen, teilte die Vorhänge und sah auf die regennasse Straße hinunter, stundenlang, mir wollte einfach nichts einfallen. Um sieben Uhr ging ich in die Küche und begann mit der Zubereitung eines Essens, das fertig sein sollte, wenn Grace aus Manhattan zurückkäme. Ein Pilzomelett, grüner Salat, Salzkartoffeln und Broccoli. Meine Kochkünste waren begrenzt, aber ich hatte einmal als Koch in einem Schnellimbiss gearbeitet, und ich besaß ein gewisses Talent, einfache Mahlzeiten zu improvisieren.Als Erstes musste ich die Kartoffeln schälen, und als ich anfing, die Schalen über einer braunen Papiertüte wegzuschneiden, hatte ich plötzlich den Handlungsverlauf der Geschichte im Kopf. Das heißt, nur den Anfang, in groben Zügen, zu denen später noch die Einzelheiten kommen mussten, aber fürs Erste war ich damit zufrieden. Nicht weil ich es für gut hielt, sondern weil ich dachte, Bobby Hunter würde darauf anbeißen – seine Meinung war die einzige, die in diesem Fall zählte.
Ich brauchte zwei Zeitreisende, beschloss ich, einen Mann aus der Vergangenheit und eine Frau aus der Zukunft. Die Handlung sollte, bis sie sich jeweils auf die Reise machen, zwischen den beiden hin und her blenden, und etwa nach einem Drittel des Films würden sie sich in der Gegenwart begegnen. Namen hatte ich für die zwei noch nicht, also nannte ich sie vorläufig Jack und Jill.
Jack ähnelt dem Helden in Wells’ Buch, ist aber Amerikaner, nicht Brite. Man schreibt das Jahr 1895, er lebt auf einer Ranch in Texas und ist achtundzwanzig, Sohn eines verstorbenen Viehbarons.
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