Nacht des Orakels
Luft ein und wartete, dass der Anfall vorüberging. Und dabei wurde mir klar, ich musste ausgesehen haben, als sei ich am Rand einer Ohnmacht.
Zwei Häuser weiter kaufte ich mir bei Vinny’s ein Stück Pizza und eine große Cola, und als ich aufstand und ging, fühlte ich mich ein wenig besser. Es war ungefähr halb vier, und Grace käme frühestens um sechs nach Hause. Ich hatte weder Kraft, durchs Viertel zu wandern und einzukaufen, noch nachher das Abendessen zu machen. Auswärts essen war damals für uns ein Luxus, aber ich fand, wir könnten uns was von Siam Garden kommen lassen, einem Thai-Restaurant, das kürzlich in der Nähe der Atlantic Avenue aufgemacht hatte. Grace würde sicher Verständnis dafür haben. Unabhängig von den Schwierigkeiten, die wir haben mochten, war sie um meineGesundheit so besorgt, dass sie mir so etwas nicht vorhalten würde.
Als ich meine Pizza verdrückt hatte, ging ich zur Bücherei in der Clinton Street, um nachzusehen, ob sie dort Bücher von der Schriftstellerin hatten, die Trause am Tag zuvor erwähnt hatte, Sylvia Monroe. In der Kartei fand ich zwei Titel,
Nacht in Madrid
und
Herbsterinnerung,
aber beide waren seit über zehn Jahren nicht mehr ausgeliehen worden. Ich setzte mich an einen der langen Holztische im Lesesaal, blätterte sie beide durch und stellte bald fest, dass Sylvia Monroe nichts mit Sylvia Maxwell gemeinsam hatte. Monroes Bücher waren konventionelle Krimis, geschrieben im Stil von Agatha Christie, und als ich in der schelmischen, geistreich gedrechselten Prosa der zwei Romane herumlas, wuchs meine Enttäuschung, und auch mein Ärger über mich selbst, dass ich auf die Idee gekommen war, zwischen den beiden Sylvia Ms könnte es womöglich Ähnlichkeiten geben. Zumindest kam mir der Gedanke, dass ich als Kind vielleicht mal ein Buch von Sylvia Monroe gelesen und gleich wieder vergessen hatte, und dass mir die Autorin dann in Gestalt von Sylvia Maxwell, der vorgeblichen Verfasserin der vorgeblichen
Nacht des Orakels,
wieder aus meinem Unterbewusstsein aufgetaucht sein könnte. Aber wie es aussah, hatte ich Maxwell aus der Luft gegriffen, und
Nacht des Orakels
war echt und hatte keine Beziehung zu irgendeinem anderen Roman als sich selbst. Wahrscheinlich hätte ich mich erleichtert fühlen sollen, aber dem war nicht so.
Als ich um halb sechs wieder in die Wohnung kam, war eine Nachricht von Grace auf dem Anrufbeantworter. Unverblümt und ruhig, mit einer Reihe einfacher, gerader Sätze, riss sie das Bauwerk des Elends nieder, das sich inden vergangenen Tagen um uns erhoben hatte. Sie rufe vom Büro aus an, sagte sie, und könne nur leise sprechen, «aber wenn du mich hören kannst, Sid», fing sie an, «habe ich dir vier Dinge mitzuteilen. Erstens, ich habe unaufhörlich an dich gedacht, seit ich heute Morgen aus dem Haus gegangen bin. Zweitens, ich habe mich entschieden, ich will das Kind haben, und wir werden das Wort
Abtreibung
nie mehr in den Mund nehmen. Drittens, mach dir keine Mühe mit dem Abendessen. Ich gehe um Punkt fünf aus dem Büro und kaufe unten bei Balducci’s ein paar leckere Fertiggerichte, die wir nur noch im Backofen aufzuwärmen brauchen. Falls die Subway nicht stecken bleibt, bin ich gegen zwanzig nach sechs, halb sieben zu Hause. Viertens, sieh zu, dass Mr. Johnson gefechtsbereit ist. Ich werde über dich herfallen, sobald ich zur Tür hereinkomme, mein Herz, also mach dich bereit. Miss Virginia kann es kaum erwarten, sich nackt mit ihrem Mann ins Bett zu stürzen.»
Miss Virginia
war einer meiner Kosenamen für sie, aber den hatte ich seit unserem ersten oder zweiten Ehejahr nicht mehr benutzt, und gewiss nicht seit meiner Heimkehr aus dem Krankenhaus. Grace beschwor damit die schöne Frühzeit unserer Beziehung, und es rührte mich, dass sie sich an diesen Namen erinnerte, denn ich hatte ihn fast nur in Augenblicken postkoitaler Entspannung benutzt: wenn Grace, nachdem wir uns geliebt hatten, aus dem Bett stieg und langsam ins Bad schlenderte, schamlos, lässig, glücklich in der Nacktheit ihres Körpers; manchmal (wie mir jetzt wieder einfiel) nannte ich sie im Scherz auch
Nackte Miss Virginia
; das brachte sie immer zum Lachen, und dann blieb sie jedes Mal stehen und nahm eine komische Pin-up-Pose ein, die wiederum michzum Lachen brachte. Tatsächlich war
Miss Virginia
nur die Kurzform von
Nackte Miss Virginia,
und wenn ich sie vor anderen Leuten Miss Virginia nannte, war dies eine heimliche Anspielung auf unser Sexleben,
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