Nacht des Schicksals
zur Tür. Als sie nach dem Lichtschalter griff, hörte sie Megan in völlig verändertem Tonfall fragen: “Mom, bei den Spencers hängen überall Familienfotos. Sogar Bilder von Jodis Mom und Dad, obwohl die schon tot sind. Wieso haben wir keine Bilder von meinem Dad?”
Kendra erstarrte. Schon lange hatte sie diesen Augenblick erwartet.
“Mom?” Das Kind sah sie mit großen Augen an. “Du hast nicht einmal ein Hochzeitsfoto! Wie kommt das?”
Kendra wurde mutlos. Was sollte sie jetzt sagen? Was würde Megan denken, wenn sie ihr die Wahrheit sagte? Es gab keine Hochzeitsfotos – weil es nie eine Hochzeit gegeben hatte! Langsam ging sie zum Bett zurück.
“Liebling”, begann sie, “darüber reden wir, wenn du älter bist. Es gibt Dinge, die du jetzt noch nicht verstehen kannst. Ich verspreche dir, eines Tages werde ich dir alles erklären. Hab nur ein bisschen Geduld.”
“Es fühlt sich an, als ob mir etwas fehlt, Mom.” Tränen schimmerten in Megans Augen. “Es kommt mir vor, als hätte ich nie einen Dad gehabt. Als hätte es nur dich und mich gegeben – schon immer.”
Bei den letzten Worten versagte Megan die Stimme, und Kendra drohte das Herz zu brechen. Megan sehnte sich nach etwas, das sie ihr nicht geben konnte. Mit tränenverschleierten Augen beugte sie sich vor und versuchte, ihre Tochter in die Arme zu nehmen. Doch Megan entwand sich ihr schluchzend und barg das Gesicht im Kissen.
5. KAPITEL
Um Viertel nach fünf am Freitag öffnete Brodie die Bürotür. “Ich verschwinde jetzt, Mitzi.”
Seine Sekretärin blickte von ihren Papieren auf. “Was steht heute Abend auf dem Programm?”
“Was für eine Frage!”
“Ach richtig, das Spiel. George wird auch wie festgenagelt vor dem Fernseher sitzen. Ich könnte wahrscheinlich nackt vor ihm herumtanzen, und er würde nur sagen: ‘Geh zur Seite Baby, du bist im Bild!’“
“Ein Mann ganz nach meinem Herzen!” Brodie lachte und schmunzelte immer noch, als er in seinen Wagen stieg und zum Ausgang des Firmengeländes fuhr. Er wollte sich gerade in den Verkehr einfädeln, als er einen bekannten weißen Wagen zum
Lakeview Motel
auf der anderen Straßenseite einbiegen sah. Er fuhr an den Straßenrand und wartete.
Einen Moment später sah er Kendra aus ihrem Wagen steigen. Sie öffnete den Kofferraum, nahm einen beachtlich großen Pappkarton heraus und stellte ihn neben den Wagen. Dann folgte ein weiterer, etwas kleinerer Karton. Sie richtete sich auf, schloss den Kofferraum und rieb sich den anscheinend schmerzenden Rücken.
Brodie vergewisserte sich, dass die Straße frei war. Dann fuhr er quer über die vier Spuren auf den Parkplatz des Motels hinüber. Er hielt neben dem Wagen an und sprang hinaus.
“Hallo”, rief er. “Brauchst du Hilfe?”
Als Kendra aufsah, bemerkte er, dass ihr Gesicht gerötet und die Haut mit einem feinen Schweißfilm überzogen war. Ihr Teint wurde noch dunkler, als sie ihn erkannte.
“Nein, danke. Ich komme schon …”
“Das war nur eine rhetorische Frage.” Er hob den größeren der beiden Kartons hoch. “Komm. Ich trage das für dich hinein.” Als er um ihren Wagen herumging und sich dem Eingang des Motels näherte, fragte er über die Schulter: “Hast du hier eine Bleibe gefunden?”
Hinter ihm erklangen ihre schnellen Schritte. “Ich habe ein Apartment genommen”, erklärte sie atemlos, nachdem sie ihn eingeholt hatte. “Ich kann es wochenweise mieten.”
Brodie blieb zurück, um Kendra vor sich durch die Drehtür gehen zu lassen … und um sich an ihrem Anblick zu erfreuen. Sie hatte ihr Haar heute zu einem französischen Zopf geflochten und trug ein langes rotes Baumwollkleid mit Spaghettiträgern und schmalem Gürtel. Sie sah verdammt sexy aus. Am liebsten hätte er sie auf der Stelle in die Arme genommen und geküsst.
Kendras Apartment lag im Erdgeschoss. Sie stellte ihren Karton vor der Tür ab und kramte in ihrer Handtasche nach dem Schlüssel. Als sie die Tür aufgestoßen hatte, konnte Brodie durch die gegenüberliegenden Fenster des Zimmers auf die Gebäude seiner Firma blicken.
Kendra ging ihm voraus in den Wohnraum und ließ ihren Karton aufstöhnend auf das Sofa fallen. Brodie stellte seine Last neben dem Fernseher ab.
“Vielen Dank”, erklärte sie und rieb sich die Schultern. “Ich habe schon den ganzen Tag Kartons geschleppt, und meine Arme fühlen sich an wie Pudding.”
Brodie sah sich um. “Du hast ja schon alles eingeräumt.”
“Ja. Jetzt muss ich mich nur
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