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Nacht des Schicksals

Nacht des Schicksals

Titel: Nacht des Schicksals Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Grace Green
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anvertrauen konnte. Mit der üblichen Routine verdrängte Kendra die dunklen Erinnerungen, doch sie konnte nicht vermeiden, dass ihr ein kalter Schauer über den Rücken rann.
    “Ist Ihnen kalt?”, fragte Hayley besorgt. “Soll ich Ihnen einen Pullover holen?”
    “Vielen Dank.” Kendra rang sich ein Lächeln ab. “Es ist Zeit, dass Megan und ich nach Hause fahren. Wir haben Ihre Gastfreundschaft schon zu lange strapaziert.”
    “Aber überhaupt nicht!” Hayley zögerte, dann fuhr sie schnell fort: “Mrs Westmore …”
    “Warum duzen wir uns nicht?”, unterbrach Kendra sie. “Ich bin nur ein paar Jahre älter als du.”
    “Wäre Ihnen das wirklich recht?”
    “Aber ja!”
    “Also gut … Kendra.” Hayley zupfte ein wenig verlegen an einer Haarsträhne. “Wegen Samstag … Könnt ihr nicht bitte kommen?”
    Kendra fühlte sich miserabel, als sie dem Blick aus Hayleys klaren blauen Augen begegnete. “Ich habe Megan gesagt, dass sie bis Freitag warten muss.”
    “Ich weiß.” Hayley zog die Augenbrauen zusammen. “Mrs Westmore … ich meine Kendra … Jodi ist ein wunderbares Kind. Sie hat jede Menge Freunde, aber noch nie war ihr jemand so wichtig wie Megan. Die beiden … Du hast sie ja während des Essens gesehen. Man könnte meinen, sie würden sich schon seit einer Ewigkeit kennen.”
    Brodie hatte inzwischen die Terrasse verlassen und kam auf sie zu. Wieder einmal spürte Kendra die Anziehungskraft, die von diesem Mann ausging. Wie sehr hatte sie sich in ihm geirrt! Sie hatte ihn als wilden, ungehobelten Kerl in Erinnerung, und nun war aus dem Halbstarken ein ehrenhafter, verantwortungsbewusster Mann geworden.
    “Wirst du am Samstag kommen?”, hörte sie Hayley leise neben sich fragen. “Den Kindern zuliebe?”
    Brodie war näher gekommen. Kendra spürte, wie ihr Puls sich beschleunigte. Sie musste von hier verschwinden, möglichst schnell!
    Sie wandte sich zu Hayley um. “Ich fürchte, ich werde die ganze Woche sehr beschäftigt sein. Ich muss mir ein Apartment suchen und unsere Sachen packen. Aber vielen Dank für die Einladung. Ich nehme sie in Megans Namen an. Ich weiß, die Mädchen werden viel Spaß miteinander haben.”
    Brodie hatte sie jetzt erreicht und hörte die letzten Worte. “Du willst nicht mitkommen?”
    “Ich werde wegen des bevorstehenden Umzugs kaum Zeit haben”, erklärte Kendra. “Vielleicht ein andermal.”
    “Dann werde ich Megan abholen. Am Samstag gegen zwei?”
    “Das ist mir recht”, erwiderte Kendra steif.
    “Also gut. Gehen wir nachsehen, was die beiden gerade anstellen.”
    In der Küche waren die Mädchen nicht zu sehen. “Wahrscheinlich sind sie oben in Jodis Zimmer”, erklärte Brodie. “Warte einen Moment”, forderte er sie auf, als sie in der Eingangshalle standen. “Ich schaue einmal nach.”
    Als sie allein war, sah Kendra sich um. An den Wänden hingen gerahmte Fotografien. Ein Bild erregte ihre Aufmerksamkeit besonders. Sie trat heran und studierte es. Es war ein Familienfoto in einem schlichten goldenen Rahmen. Es war leicht zu erraten, wer die fünf Personen waren: Jack, Maureen und ihre drei Kinder.
    Jack sah genauso aus wie Brodie – das gleiche wellige Haar, die gleichen Gesichtszüge, die gleichen blaugrünen Augen. Allerdings wirkte er etwas untersetzt. Seine Frau war eine Schönheit und hatte einen Teil davon vererbt. Kendra erkannte bei ihr Hayleys kornblumenblaue Augen und das glänzende braune Haar wieder. Jodi saß auf dem Schoß ihres Vaters und musste etwa ein Jahr alt sein. Sie war ein niedliches, rundliches Baby, und es sah aus, als wäre ihr das Stillsitzen nicht leicht gefallen. Jack Junior und Hayley waren leicht zu erkennen. Jack grinste frech in die Kamera. Hayley lächelte ein wenig schüchtern.
    Kendra seufzte. Ein Jahr später hatte das Schicksal die Familie auseinandergerissen. Sie wandte sich ab. Brodie verdiente höchsten Respekt. Er hatte Kinder großgezogen, auf die er stolz sein konnte.
    Als sie ihn die Treppe herunterkommen hörte, fühlte sie sich ertappt, doch Brodie schien nichts von ihren Gedanken zu ahnen. “Sie kommen sofort”, erklärte er. “Ich habe noch nie erlebt, dass zwei Kinder sich auf Anhieb so gut verstehen”, fügte er hinzu. “Es ist schon fast unheimlich. Sie kennen sich kaum ein paar Tage, und schon vollenden sie jeweils die Sätze der anderen.”
    Er hatte den Fuß der Treppe erreicht und stand so nah bei Kendra, dass sie seinen herben, männlichen Duft wahrnehmen konnte.

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