Nacht des Verfuehrers - Roman
gewesen. Sie ertappte sich dabei, dass sie am meisten von allem Severinor vermisste, was ihr schier pervers vorkam. Schnee
fiel und schmolz weg, fiel wieder und blieb liegen, tauchte die Welt in einen frühen Winter, der sich tief in ihr Herz schlich.
In dem Zelt, das sie sich mit Dejana teilte, während die Männer draußen auf dem kalten harten Boden schliefen, fiel Alcy jede Nacht in einen erschöpften Schlaf. Und jeden Morgen erwachte sie kaum erholt. Sie kleidete sich an, frühstückte, stieg aufs Pferd und nahm ihren Platz im Reiterzug ein. Sie kam sich vor, als seien sie und Dumitru das armselige Königspaar, das man in einem ganz, ganz kleinen römischen Triumphzug in die Hauptstadt brachte, um sie dort auf den Straßen vorzuführen und ihre Niederlage zu feiern.
In der siebten Nacht, nachdem sie Belgrad verlassen hatten – Tage, nachdem der letzte Funken Hoffnung ihren Fingern entglitten war -, erwachte Alcy nicht, weil sich im Lager etwas regte oder Licht durch das Zeltdach drang, sondern weil sich eine Hand auf ihren Mund legte und sie aus den Tiefen des Schlafes zerrte. Sie machte den Mund auf, war zu verwirrt, um sich zu wehren, und sah, wie sich die Kontur eines Mannes vor dem weißen Zeltdach abzeichnete.
Dumitru.
Sie kannte ihn, wie sie sich selbst kannte. Sie erkannte die Textur seiner Hand auf ihrem Mund, seine Gestalt, den warmen Geruch seiner Haut, individuell und atemberaubend. Sie berührte seine Hand, um ihm Gewissheit zu geben, und er zog sie sogleich weg.
Sie rückte vorsichtig von Dejana ab, die sich der Wärme wegen an sie gekuschelt hatte, und war sich der Tatsache bewusst, dass einzig das dünne Segeltuch sie von den Soldaten
und der Entdeckung trennte. Die Zofe hatte sich an Alcys gelegentliche nächtliche Ausflüge in den Wald gewöhnt und regte sich nicht einmal mehr. Sie zitterte nur ein wenig und wühlte sich tiefer in die Decken.
Alcy stand auf. Die Kälte traf sie wie ein Schlag, raubte ihr den Atem und kroch durch die Flanellunterröcke. Sie biss die Zähne zusammen, damit sie ihr nicht klapperten. Sie raffte die Kleider zusammen, warf sich den Umhang über die Schultern und schlüpfte in die aufgeknöpften Schuhe.
Dumitru drehte sich wortlos um und trat aus dem Zelt. Das Segeltuch knisterte frostig, als er es anhob. Alcy folgte Dumitru, das Herz in der Brust hämmernd, die Bewegungen ungelenk vor Kälte. Um sie herum gab es nur die roten heruntergebrannten Kohlen und die schlafenden Wachen, die wie formlose Klumpen unter ihren Decken kauerten, bis zum Kinn zugedeckt und reglos. Kalte Nächte, das wusste Alcy inzwischen, ließen Männer tiefer schlafen.
Dumitru lief lautlos auf den Ring aus Bäumen zu, der das Lager umgab. Alcy schlich hinter ihm her, stieg über die abgebrochenen Zweige, die wie schwarze Schlangen auf den vereinzelten weißen Schneeflecken lagen. Die Bäume schlossen sie ein, sperrten den Schein der Feuer aus wie auch das fahle Licht der Sterne über ihnen. Alcy riss die Augen auf, so weit es ging, um mehr Licht aufzunehmen, streckte die freie Hand aus und fasste Dumitru an der Jacke, während sie den kaum sichtbaren Boden nach Stolperstellen absuchte. Er blieb stehen, sie auch. Dann sah sie auf und entdeckte die beiden Pferde, die an einem Baum festgebunden waren. Er hatte ihnen Pferde besorgt. Sie machte die Augen zu, schickte ein Dankgebet zum Himmel.
Ihr Herz beruhigte sich und schlug wieder annähernd normal.
Dumitru reichte ihr die Zügel, und Alcy zog sich effizient, wenn auch nicht gerade anmutig, in den Sattel, während er sich in den seinen schwang. Er wendete sein Pferd, ließ es flotten Schritts gehen, und Alcys folgte ihm mühelos. Alcy schwieg so lange, wie sie es ertragen konnte – viele Minuten, bis sie sicher sein konnte, dass sie außer Hörweite waren. Endlich flüsterte sie: »Wie hast du das geschafft?«
»Ich habe gar nichts gemacht«, sagte er mit leiser, belustigter Stimme. »Ich habe einfach nur abgewartet, bis die Wachen so viel Vertrauen zu uns gefasst hatten, dass sie nachts fest schlafen. Dann bin ich einfach weggegangen.«
»Und was, wenn sie nicht eingeschlafen wären?« Alcy musste einfach nachfragen.
»Zum Glück musste ich mich mit dieser Möglichkeit nicht auseinandersetzen«, sagte er trocken. »Der Wald lichtet sich, wir können traben.«
Trotz der Leichtigkeit in seiner Stimme – dieser wundervollen, gesegneten Leichtigkeit, die seine Stimme schon früher immer ausgezeichnet hatte, was Alcy allerdings fast
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