Nacht in Havanna
Circulo Social der Havana Yacht Club, und irgendwas mit widrigen Wetterbedingungen.«
»>Wegen Regens wird das Folklorefestival um zwei Wochen verschoben<, das ist alles.«
Arkadi überprüfte das Datum der Zeitung. »Bis morgen.« Er stand auf, um den in der Ecke sitzenden Chango genauer zu untersuchen. Der Arm der Puppe lag schlaff auf dem Stock, die Füße waren ausgestreckt, die Glasaugen in dem nur angedeuteten Gesicht erwiderten Arkadis Blick. Je länger Arkadi die Puppe betrachtete, desto mehr glaubte er, daß es dieselbe war, die aus Pribludas Wohnung am Malecon verschwunden war. Dasselbe rote Stirnband, dieselben Reebok-Schuhe, dasselbe unheilvolle Starren. »Er erinnert mich an Luna.«
»Natürlich«, sagte Ofelia, »Luna ist ein Sohn von Chango.«
»Ein Sohn von Chango?« Wieder hatte Arkadi das Gefühl, daß jedes Gespräch mit Ofelia Falltüren besaß, die sich unvermittelt auftun und einen Menschen in ein Paralleluniversum fallen lassen konnten. »Woher weißt du das?«
»Es ist offensichtlich. Sexuell aggressiv, gewalttätig, leidenschaftlich. Ganz Chango.«
»Wirklich?« Er beugte sich vor, um die gelben Perlen um ihren Hals besser zu sehen. »Und…«
»Ochün«, sagte sie steif.
»Davon habe ich auch schon gehört.«
»Du bist ein Sohn von Oggün.«
Arkadi hatte das Gefühl, schon halb durch die Falltür zu sein. »Weiter, wer ist Oggün?«
»Oggün ist Changös größter Feind. Sie kämpfen oft miteinander, weil Chango so gewalttätig ist und Oggün ein Wächter gegen das Verbrechen.«
»Ein Polizist? Das hört sich aber nicht besonders amüsant an.«
»Er kann auch sehr traurig sein. Einmal war er so wütend über die Menschen, ihre Verbrechen und Lügen, daß er tief in den Wald ging, wo ihn niemand finden konnte. Und er blieb stumm, so daß niemand mit ihm reden oder ihn wieder herauslocken konnte. Schließlich machte sich Ochün auf die Suche nach ihm und ging durch den Wald, bis sie eine Lichtung an einem Fluß erreichte. Sie spürte, daß Oggün sie aus dem Schutz der Bäume aufmerksam beobachtete. Doch sie beging nicht den Fehler, ihn zu rufen. Statt dessen begann sie langsam und mit ausgestreckten Armen zu tanzen. Ochün hat ihren eigenen Tanz, und der ist sehr erotisch. Als sie spürte, daß Oggün neugierig wurde und näher kam, rief sie seinen Namen noch immer nicht, sondern tanzte ein wenig schneller und dann wieder langsamer. Und als er sein Versteck ganz verließ, tanzte sie weiter, bis er so nah war, daß sie ihren Finger in eine Gurde mit Honig, die sie um ihre Hüfte trug, tunken und über seine Lippen streichen konnte. Noch nie in seinem Leben hatte er etwas so Süßes geschmeckt. Sie tanzte, füllte ihre Hand mit Honig und träufelte immer mehr davon in seinen Mund, während sie ihn mit einem Seil aus gelber Seide anleinte und zurück in die Welt führte.«
»Das könnte funktionieren.«
Nicht Honig, aber das süße Salz ihrer Haut. Keine seidenen Bänder, sondern ihre Arme. Keine Worte, sondern Hände und Lippen. Arkadi zog sie an sich, als Changos Spazierstock plötzlich über das Linoleum kratzte. Die Puppe rutschte nach vorn, ihr Kopf sackte langsam zur Seite wie bei einem Betrunkenen, der die Anstandsregeln endgültig vergaß; ihr Körper rutschte von dem Stuhl und fiel kopfüber auf den Boden.
»Ein seltsamer Zauber«, sagte Arkadi. Bei ihm hatte er gewirkt. Er schwang sich aus dem Bett, hob die Puppe auf und setzte sie wieder auf den Stuhl. Hier war die Gestalt, die ihm durch ganz Havanna gefolgt war, sein schattenhafter Begleiter.
Es war Arkadi schleierhaft, wie er es vorher geschafft hatte, ihn auf den Stuhl zu setzen, denn der Stock rutschte immer wieder in die eine, der bizarr zusammengesunkene Körper der Puppe in die andere Richtung. »Der Kopf ist zu schwer, er bleibt einfach nicht oben.«
Ofelia machte Arkadi ein Zeichen, zurück ins Bett zu kommen. »Laß ihn. Es ist nur Pappmache.«
»Das glaube ich nicht. Nein.« Der Zauber war gebrochen. Er nahm Changö und trug ihn zum Bett, um sich genauer anzusehen, wie der Kopf am Hemd befestigt war. »Hast du zufällig eine Schere in deinem Kulturbeutel?«
Arkadi zog sich eine Hose an, und Ofelia schlüpfte in seinen Mantel. Weil die Nagelschere zu klein war, mußte Arkadi jeden Faden einzeln durchtrennen, um den Kopf von dem Holzstab zu schieben, der das Rückgrat der Puppe bildete. Er ließ ihren kopflosen Körper zu Boden gleiten.
»Was machst du?« fragte Ofelia.
»Ich sehe mir Changö an.«
Er
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