Nacht in Havanna
zugeschwollen, und ihr Herz raste, setzte aus und raste weiter.
Doch das Adrenalin, das auf dem Rollwagen bereitliegen sollte, die Spritze, die ihr Herz wie eine Uhr hätte richtig einstellen und die Verengung in ihren Luftwegen hätte lösen können, war nicht da, verlegt, ein unschuldiger Irrtum. Panisch versuchte der Arzt, den Medizinschrank zu öffnen, und brach dabei den Schlüssel im Schloß ab, was ihr Schicksal endgültig besiegelte.
Als Arkadi das Laken von dem Behandlungstisch in der Poliklinik gerissen hatte, war er erstaunt gewesen, was sie in der kurzen Zeit, die er gebraucht hatte, um zum Kiosk zu gehen und eine Zeitschrift zu kaufen, mit Irina angerichtet hatten. Ihr Gesicht lag verzerrt in einem Gewirr aus Haaren, die mit einem Mal so viel dunkler aussahen, als wäre sie ertrunken und hätte einen Tag im Wasser gelegen. Ihr Kleid war bis zur Hüfte aufgeknöpft und verheddert und entblößte ihre von Stößen malträtierte Brust. Sie hatte die Hände im Todeskampf zu Fäusten geballt, die noch warm waren. Er schloß ihre Augen, strich das Haar aus ihrer Stirn und knöpfte ihr Kleid zu, ohne den Arzt zu beachten, der darauf bestand, daß die »Leiche nicht gestört« werden dürfe. Als Antwort packte er den Arzt und warf ihn durch eine Spiegelglasscheibe, die als kugelsicher verkauft worden war. Durch den Aufprall platzten Schränke auf, Instrumente flogen durch die Luft, Alkohol tropfte zu Boden und erfüllte die Luft mit seinem Aroma. Nachdem er das Personal vertrieben und das Behandlungszimmer für sich hatte, bettete er ihren Kopf auf seinen Mantel.
Er hatte sich nie für einen Melancholiker gehalten, nicht nach russischen Maßstäben jedenfalls. Selbstmord lag nicht in seiner Familie - mit Ausnahme seiner Mutter, die jedoch schon immer dramatischer veranlagt gewesen war. Nun, da gab es natürlich auch noch seinen Vater, aber sein Vater war nie etwas anderes als ein Mörder gewesen. Arkadis Widerstand gegen die Idee gründete sich nicht auf Moral, sondern auf gute Manieren, er wollte keine Sauerei hinterlassen. Hinzu kam die praktische Frage des Wie. Erhängen war unverläßlich, und er wollte nicht, daß irgend jemand ihn so fand. Erschießen kündigte sich mit einem prahlerischen Knall an. Das Problem war, daß die Suizidspezialisten nur durch Beispiel lehren konnten, und er hatte schon genug verpfuschte Versuche gesehen, um zu wissen, wie häufig es einen Ausrutscher gab, bevor der Schierlingsbecher die Lippen erreicht hatte. Am besten wäre es, einfach zu verschwinden. In Havanna zu sein, gab ihm das Gefühl, es schon halb geschafft zu haben. Früher war er ein besserer Mensch. Früher war er mitfühlend gewesen. Er hatte Selbstmörder immer für egoistisch gehalten, weil sie ihre Leichen hinterließen und die anderen erschreckten, die hinter ihnen aufräumen mußten. Er konnte natürlich jederzeit von vorn anfangen, sich einer guten Sache verschreiben und zulassen, daß seine Wunden verheilten. Das Problem war nur, daß er nicht wollte, daß die Erinnerung an sie verblaßte. Solange er sich noch an sie erinnerte, an ihren Atem im Schlaf, die Wärme ihres Rückens, die Art, wie sie sich am Morgen zu ihm umdrehte, solange er noch verrückt genug war zu glauben, er würde neben ihr aufwachen, sie im Nebenzimmer hören oder auf der Straße sehen, gab es für ihn nur das Jetzt. Wenn das anderen Leuten Umstände bereitete, nun, dann tat es ihm leid.
Er zog die sterile Spritze, die er in dem Einbalsamierungszimmer gestohlen hatte, aus der Jacke. Er hatte sie ganz spontan genommen, ohne bewußten Plan oder als ob ein anderer Teil seines Gehirns Gelegenheiten ergriff und die Tagesordnung festlegte, die er erst nach und nach erfuhr. Jeder wußte nur zu gut, daß in Kuba Mangel an medizinischen Geräten herrschte, und er stahl sie auch noch. Er riß die Tüte auf und breitete ihren Inhalt auf dem Tisch aus - eine Fünfzig-Kubikzentimeter-Einbalsamierungsspritze mit einer zehn Zentimeter langen Hohlnadel. Er schraubte sie auf die Spritze und zog den Kolben hoch, um den Zylinder mit Luft zu füllen. Sein Stuhl hatte verschieden lange Beine, so daß er sich auf die Kante setzen mußte, damit er nicht wackelte. Er schob den linken Ärmel von Mantel und Hemd hoch und schlug sich auf die Innenseite des Ellbogens, damit die Vene deutlicher hervortrat. Wenn er die Luft in den Blutstrom injiziert hatte, würde es etwa eine Minute dauern, bis sein Herz stehenblieb. Nur eine Minute und nicht die fünf,
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