Nacht in Havanna
Hitze bereiteten sie sich ein Lager auf den Metallstühlen auf dem Balkon. Die Laternen brannten noch, und vom Balkon aus konnte man zumindest beobachten, ob sich Luna von der Meerseite des Malecon näherte. Doch Ofelia Osorio schien andere Sorgen zu haben, sie folgte jeder Bewegung Arkadis mit wachsamem Blick, als hätte sie Angst, er könnte sich plötzlich aufs Pflaster hinunterstürzen. Vielleicht waren bonbonfarbene Oberteile und Hot pants ja die aktuelle Jinetera-Mode - sie hatte ihm kurz von ihrer Überwachungsaktion berichtet -, doch sie unterstrichen die Zartheit ihres Körpers, die kurzen Locken und die von endlos langen Wimpern eingerahmten Augen nur, so daß er sich vorkam, als würde er von einem Kind beschützt. Warum er hier mit ihr saß, anstatt ans Portal der russischen Botschaft zu klopfen und um Asyl zu bitten, wußte er nicht.
Eine Welle brach sich an der Hafenmole, und er fragte sich, ob die Lichter der Fischer weiter draußen mit der Ebbe oder der Flut trieben. Das kleine Dorf Casablanca auf der anderen Seite der Bucht konnte er nicht sehen, doch der Leuchtturm beim Castillo El Morro warf in regelmäßigen Abständen seinen Strahl über das Wasser, und am entfernten Horizont war ein lautloses Wetterleuchten auszumachen.
Die Kommissarin stieß ihn an, und er sah auf der Mole das Mädchen, das bei dem Santero besessen gewesen war. Hedy wirkte frisch herausgeputzt und hatte auch schon die Aufmerksamkeit eines nächtlichen Spaziergängers, eines europäischen Urlaubers in elegant gebauschtem Hemd, erregt.
»Die offizielle Sprache der j/neteras ist Italienisch«, sagte Ofelia leise.
»Das habe ich auch schon gehört. Es ist Hedy, das Mädchen von der Santeria-Zeremonie. Zumindest ist sie wieder auf den Beinen.«
»Bestimmt nicht lange«, sagte die Kommissarin so bestimmt, als wollte sie eine sichere Wette eingehen.
Manchmal sprach sie mit der grimmigen Befriedigung eines Henkers, dachte Arkadi. »Was genau ist eigentlich mit ihr passiert? Sie war besessen, und der Santero konnte ihr nicht helfen?«
»Die Trommler waren Abakua.«
»Und?«
»Abakua stammt aus dem Kongo, und sie wurde von einem Geist aus dem Kongo heimgesucht. Santeros haben mit Kongogeistern nichts zu tun.«
»Ach, wirklich? Ich finde, das klingt nach einem ziemlich strikten System der Zuständigkeiten.«
Ofelia Osorio kniff die Augen zusammen und sah ihn an. »Wir können an Santeria, Palo Monte, Abakua oder den Katholizismus glauben. Oder an eine beliebige Kombination. Halten Sie das für unmöglich?«
»Nein. Die Dinge, an die ich glaube, sind genauso eigenartig: Evolution, Gammastrahlen, Vitamine, Poesie von Achmatowa, Lichtgeschwindigkeit, und die meisten davon glaube ich blind.«
»Woran hat Pribluda geglaubt?«
Arkadi überlegte eine Weile, die Frage gefiel ihm. »Er war hart und durchtrainiert und hat am Tag hundert Sit-ups gemacht, aber er glaubte, der Schlüssel zu einem gesunden Leben wären Knoblauch, schwarzer Tee und bulgarischer Tabak. Er mißtraute Rothaarigen und Linkshändern. Er mochte lange Zugfahrten, weil er da Tag und Nacht einen Schlafanzug tragen konnte. Er hat nie einen giftigen Pilz gepflückt. Er nannte Lenin immer noch >Iljitsch<. Er hat einen stets davor gewarnt, den Namen des Teufels laut auszusprechen, weil er dann kommen könnte. Im Badehaus hat er sich erst gewaschen und dann ein Dampfbad genommen, was auf jeden Fall höflicher ist. Er hat immer gesagt, Wodka ist Nahrung für die Seele.«
Hedy und ihr neuer Freund spazierten außer Sichtweite. Osorio streckte ihre Beine aus und legte ihre Füße auf das Balkongeländer, offenbar in der Absicht, es sich bequem zu machen, obwohl die Gartenstühle wenig Komfort boten. Arkadi sah, daß ihre Fußsohlen zartrosa waren.
»Ich weiß, daß Dr. Blas festgestellt hat, daß Pribluda einen Herzinfarkt hatte«, sagte er. »Und ich gebe zu, daß die unbeschädigte Angelausrüstung für die Hypothese spricht. Aber vielleicht hatte er nicht nur eine Angelausrüstung bei sich. Wenn Sie mir erzählt hätten, Pribluda wäre bei einem Marathon zusammengebrochen, hätte ich Ihnen vielleicht geglaubt. Aber nicht beim Aalen auf dem Wasser. Darf ich Sie fragen, wie gut Sie Dr. Blas kennen? Können Sie sich auf seine Ehrlichkeit verlassen?«
Sie zögerte mit ihrer Antwort. »Blas ist zu eitel, um sich zu irren. Wenn er sagt, es war ein Herzinfarkt, war es ein Herzinfarkt. Sie können die Leiche ja in Rußland untersuchen lassen, wenn Sie wollen. Die Ärzte
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