Nacht in Havanna
Gegenstrom neuer Passagiere drängte an Bord und trug Arkadi und die Kommissarin mit sich. Im Inneren herrschten Temperaturen knapp unter dem Siedepunkt, an den Seiten gab es Sitze, am Heck Abstellplätze für Fahrräder, unter der Decke sich kreuzende Balken zum Daranhängen. Arkadis Mantel zog die Blicke auf sich, doch das war ihm egal. »Mögen Sie Boote auch so gern wie ich?«
»Nein«, sagte sie.
»Segelboote, Fischerboote, Ruderboote?«
»Nein.«
»Vielleicht ist es typisch männlich. Ich glaube, der Reiz liegt in der scheinbaren Verantwortungslosigkeit, dem Gefühl, irgendwohin zu treiben, während das Gegenteil wahr ist. Man muß schuften wie ein Hund, um nicht unterzugehen.« Die Kommissarin antwortete nicht. »Was ist los? Was haben Sie?«
»Es verstößt gegen das Gesetz der Revolution, daß ein Ausländer Zimmer mietet. Abuelita hätte ihn melden müssen. Er hat sich unter der Bevölkerung versteckt, weil er ein Spion war.«
»Ich bezweifle, daß Pribluda als Kubaner durchgegangen ist, wenn Sie das tröstet. Er wollte einen Blick aufs Meer haben. Das kann ich verstehen.«
Je mehr Arkadi vom Hafen sah, desto beeindruckter war er sowohl von seiner Größe als auch von dem Mangel an Aktivität, ein Panorama des Stillstands. Auf der einen Seite Havannas Werften und Frachtbüros, auf der anderen die grüne Steilküste von Casablanca mit einer pinkfarbenen Wetterstation und einer weißen Christusstatue. Entlang der Bahia de la Habana sah Arkadi ein paar vereinzelte Frachter, eine starre Herde von Lastkränen und die qualmenden Fackeln der Raffinerien. Nur ein schwarzes kubanisches Torpedoboot von buckeliger russischer Bauart mit einer automatischen Kanone auf dem Achterdeck steuerte aufs offene Meer hinaus. Er bemerkte, daß Ofelia Osorio seinen Kopf betrachtete.
»Wie sehe ich aus?«
»Reif. Ihre Botschaft sollte Sie einsperren.«
»Mit Ihnen bin ich doch sicher.«
»Ich bin nur bei Ihnen, weil Sie nach Casablanca wollen und kein Wort Spanisch sprechen. Viejo, ich habe andere Dinge zu tun.«
»Nun, ich amüsiere mich jedenfalls prächtig.«
Das Dorf Casablanca sah aus, als hätte es ursprünglich zu Christi Füßen auf der Kuppe des Hügels gestanden und wäre dann zur Wasserkante hinuntergepurzelt: übereinandergestapelte Hütten aus Betonblöcken und Blechplatten über vornehmeren Häusern aus der Kolonialzeit. Dunkelrote Bougainvillea wucherte über Mauern, Jasminduft machte die warme Luft schwer und klebrig. Von der Anlegestelle der Fähre stiegen Arkadi und Osorio zu einem Straßenbahndepot mit Schienenräumern für den Landeinsatz hinauf. Sie kamen durch eine Hauptstraße, in der die Läden zum Schutz gegen die Sonne heruntergelassen waren, auch die einer PNR-Station waren fest verrammelt. Sie folgten den Überresten einer geschwungenen Treppe zu einem von Unkraut überwucherten Park mit betonierten Wegen und einem Blick auf die Bucht, das pechschwarze Wasser, die Pfähle, Müllhaufen und Tonnen, wo der neumät/co vor drei Tagen gefunden worden war. Bei Tag, ohne Scheinwerfer, die gaffende Menge, die Musik und Capitán Arcos, der hektisch Fehlanweisungen brüllte, wirkte die Szenerie vollkommen anders. Im Licht der Sonne wurden architektonische Details an den eleganten Häusern entlang des Ufers sichtbar, obwohl sie im ganzen so marode waren, daß sie Arkadi an Ruinen griechischer Tempel erinnerten. Er erkannte jetzt auch, wie baufällig der Steg war, der über das Wasser zu einem halben Dutzend Fischerboote führte. Alle Schiffe hatten lange Masten, die sich wie Antennen himmelwärts reckten, und waren für den Fall, daß sie unversehens in die große weite Welt aufbrechen sollten, mutig mit der Aufschrift ihres Heimathafens Casablanca versehen worden.
»Hier wurde er zwar angeschwemmt, aber gestartet ist er woanders. Hier gibt es nichts zu finden«, sagte die Kommissarin.
Das Dock verschwand hinter dem Zaun eines Schuppens, den Arkadi bei seinem ersten Besuch gar nicht bemerkt hatte. Er ging um das Gelände herum zu einem Tor auf der Rückseite, das auf einen Hof führte, der aussah wie ein Stück der Teufelsinsel. Er beherbergte neben schlafenden Katzen ein unübersehbares Durcheinander von aufgebockten Wracks und geflickten Schiffsrümpfen. Auf Deck eines der Boote bellte ein Hund. Zwei Männer mit nackten Oberkörpern bogen eine Schraubenwelle gerade, während Hühner zu ihren Füßen nach Körnern scharrten. Das war wahre Autarkie, dachte Arkadi, eine Werft, die aus Strandgut ein
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