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Nacht in Havanna

Nacht in Havanna

Titel: Nacht in Havanna Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Cruz Smith
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geführt. Er hätte sagen können, daß es die Art gewesen war, wie die Arbeiter die Kommissarin gemieden hatten, aber nein, es war, als ob »El Pinguino« seinen Namen gerufen hätte.
    »Ein Augenblick der Klarsicht.«
    »Es war mehr als das. Sie haben ihn sofort durchschaut.«
    »In Mißtrauen bin ich bestens geschult. Das ist die russische Methode.«
    Ofelia Osorio warf ihm einen unergründlichen, humorlosen Blick zu. Aus der Kommissarin wurde er noch immer nicht schlau. Die Tatsache, daß Luna von ihm abgelassen hatte, als sie im Hof des Santero aufgekreuzt war, konnte bedeuten, daß sie auf derselben Seite arbeiteten, aber auch das Gegenteil. Sie konnte einfach eine kleine Version des Mannes sein, der Arkadi mit einem Baseballschläger zusammengeschlagen hatte, doch manchmal war ihm, als würde er eine vollkommen andere, verborgene Person belauschen, die sich in ihr regte. Die Fähre legte den Rückwärtsgang ein und versetzte das Deck in leichte Schwingung, als sie an der Anlegestelle andockte.
    »Und nun sollten wir zum Arzt gehen«, sagte Ofelia. »Ich kenne einen guten.«
    »Danke, aber jetzt habe ich endlich eine Mission. Ihr Dr. Blas braucht ein besseres Foto von Sergej Pribluda. Ich habe mich bereit erklärt, eines aufzutreiben, oder es wenigstens zu versuchen.«
     
    Hinter der Adresse, die Isabel ihm am Abend zuvor zugesteckt hatte, verbarg sich ein altes Stadthaus, das wie eine würdevolle ältere Dame in einem edlen, aber zerschlissenen Kleid den vergeblichen Anschein europäischer Kultur wahrte. Die Marmortreppe war von einem gußeisernen Geländer eingefaßt. Lünetten aus farbigem Glas tauchten den Fußboden eines Empfangsraums voller Frauen in weißen Hauskitteln in ein rotblaues Licht.
    Arkadi folgte den Klängen Tschaikowskys, hellen klirrenden Tönen von einem verstimmten Klavier, auf einen sonnendurchfluteten Hof, wo er den Tänzerinnen durch ein offenes Fenster beim Proben zusehen konnte.
    Ihre Oberkörper glichen denen halbverhungerter Waisenkinder, wurden aber von einer kraftvollen Muskulatur getragen, die in ihrem Kreuz begann, ihre Oberschenkel modellierte und sich bis zu den Füßen fortsetzte. Während russische Ballerinen eher dem Typ teigiger, blasser Blondinen zuneigten, hatten die Kubanerinnen windhundschmale, von schwarzen Haaren gerahmte Gesichter mit dunklen Augen, die die Arroganz von Flamencotänzerinnen ausstrahlten. In der Art, wie sie sich in ihren Trikots mit vogelartigen Schritten von steifer Eleganz in geflickten Spitzenschuhen über den mit Linoleumstücken ausgebesserten Parkettboden bewegten, lag eine erstaunliche Mischung aus Armut und Anmut. Als Russe brauchte er einen Moment, um sich an den Anblick zu gewöhnen. Er war mit der Einstellung aufgewachsen, daß die großen Tänzer - Nijinskij, Nurejew, Makarowa, Barischnikow - per definitionem - Russen waren, ihr Examen an Schulen wie der Waganowa-Akademie in Sankt Petersburg machten und am Kirow oder Bolschoi tanzten, bis sie in den Westen flüchteten. Auch wenn sie heute genau wie Eishockeyspieler selbständige Unternehmer waren, war die Tradition an sich immer noch russisch. Doch hier war ein Raum voller Tänzerinnen, die so exotisch waren wie Gewächshausorchideen. Vor allem Isabel, die jede Bewegung schwerelos erscheinen ließ, sich mit unendlicher Leichtigkeit drehte und bis in die letzte Reihe alle Blicke auf sich zog. Schließlich klatschte die Ballettmeisterin in die Hände und entließ die Klasse, woraufhin Isabel ihr Sweatshirt und ihre Tasche nahm, zu Arkadi herüberkam und auf russisch nach einer Zigarette verlangte. Sie setzten sich an einen Tisch in der Ecke des Hofs. Isabel inhalierte mit Inbrunst, während sie Arkadi von oben bis unten musterte. »An die dreißig Grad, und Sie tragen noch immer Ihren Mantel. Das hat Klasse.«
    »Ein Stil. Sie sind sehr gut«, versicherte Arkadi ihr. »Das spielt keine Rolle. Ich werde immer nur erste Tänzerin sein, egal, wie gut ich bin. Wenn ich nicht die Beste wäre, würden sie mich gar nicht in die Kompanie lassen.«
    »Warum nicht?«
    »Weil mein Vater, als ich noch klein war, in eine Verschwörung geraten ist und als Verräter verurteilt wurde, obwohl er unschuldig war.«
    Wieder fielen Arkadi die Melancholie in ihrer Stimme und ihr langer Hals auf, die feinen schwarzen Härchen, die sich in ihrem Nacken auf schneeweißer Haut kräuselten. Und ihre bis aufs Nagelbett abgekauten Fingernägel. Sie sog hungrig an ihrer Zigarette, als sei Rauchen ihr Ersatz für

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