Nacht in Havanna
eines Menschen, der vom Schlaf übermannt worden war. Ofelia strich eine Strähne aus seiner Stirn, um eine längliche Narbe am Haaransatz zu entblößen. »Sieht aus, als hätte er sich vor ein paar Tagen den Kopf gestoßen«, sagte Blas. »Das ist jetzt das geringste seiner Probleme.«
»An wen erinnert er Sie?«
»An niemanden.«
»Wie würden Sie ihn beschreiben?«
Blas legte den Kopf zur Seite wie ein Schreiner, der einen Kostenvoranschlag machen soll. »Europäer, Mitte Vierzig, mittelgroß, schwarze Haare, braune Augen, hohe Stirn, beginnende Geheimratsecken.«
»Renko?«
»Jetzt, wo Sie es sagen.«
Sie mußten die Leiche vor der Tür wegräumen, als das Ermittlungsteam des Innenministeriums kam, angeführt von Capitán Arcos und Sargento Luna. Arcos begaffte die Leiche am Boden. Luna trat an den Fuß des Bettes und starrte auf Hedy. Seine Haut wurde grau, seine Lippen waren leicht geöffnet, und er atmete durch seine zusammengepreßten Zähne, während Ofelia Bericht erstattete. Wo ist Ihr Eispickel, wollte sie ihn fragen, doch statt dessen schlüpfte sie aus der Tür, als Blas übernahm.
Die Casa del Amor hatte sich geleert. Beim Anblick von PNR-Ladas und einem Transporter der Pathologie mit dem Emblem der Justitia auf der Tür waren die Gäste nur kurz zurückgekehrt, um sich ihre Reisetaschen zu schnappen und das Weite zu suchen. Am Fuß der Treppe fand Ofelia einen Schlauch, mit dem sie zunächst ihre Schuhsohlen und dann ihr Gesicht und ihre Hände abspritzte.
Das Kriminallabor des Innenministeriums war im Antiguo-Hotel Via Bianca untergebracht, einem Sandsteinpalast aus dem neunzehnten Jahrhundert, den die Spanier in einer irrigen Aufwallung imperialen Selbstvertrauens kurz vor der ersten kubanischen Revolution errichtet hatten. In den dunklen Mauern und schmalen Fenstern des Gebäudes nistete noch immer eine düster iberische Stimmung.
Während an Blas’ Institute de la Medicina Legal Autopsien durchgeführt wurden, analysierten die Labors des Innenministeriums Drogen und Gifte, Schußwaffen und Sprengstoffe, Fingerabdrücke, Dokumente und Währungen. Die Arbeit wurde zwar für die PNR erledigt, doch die Uniformen waren olivgrün wie beim Militär.
»Fidel liebt Uniformen«, behauptete ihre Mutter immer. »Steck jemanden in eine Uniform, und du hast einen Idioten mehr, der seine Nachbarn beobachtet und fragt: >Woher hat der seinen Dollar? Woher hat die diese Hühner?<« Das brachte ihre Mutter stets so heftig zum Lachen, daß sie zum WC watscheln mußte. »>Socialismo o Muerte?< Irgend jemand sollte Fidel endlich darüber aufklären, daß das kein Entweder-Oder ist.«
In der Asservatenkammer lagerten Waffen in Regalen, die auf der Unterseite noch den Stempel des FBI trugen. Die Gewehre waren Schrotflinten von Bauern; militärische Waffen wurden in der Armee oder der Miliz wiederverwendet. Genug Macheten, um ein ganzes Zuckerrohrfeld zu roden, Äxte, Messer und selbstgebastelte Kuriositäten: eine Mörteltrommel aus Bambus und Speere aus Zuckerrohr. Auf der gegenüberliegenden Seite lagen weitere sichergestellte Beweisstücke: Kleidung in Säcken, Umschläge mit Ringen und Ohrringen, Centavos in Gläsern, Schuhe, Sandalen sowie ein frisch verpacktes Paar Schwimmflossen neben einem Reifenschlauch.
Irgend jemand hatte die Flossen abgespült, und als Ofelia die linke ins Licht hielt, glaubte sie, in dem Riemen eine winzige Spur von Verbrennung zu erkennen, was jedoch auch an ihrer Einbildung oder Renkos Einfluß liegen konnte. Sie legte die Flossen sorgfältig ins Regal zurück, so wie man eine Frage zurückstellt.
Sie ging ins Archiv, wo Papierstaub unter dem Neonlicht tanzte. Die beiden funktionierenden Computer auf dem Tisch waren belegt, aber in einer Nische hinter einem mit einem verblaßten Band zusammengehaltenen Stapel Akten fand sie ein drittes Terminal, wo sie die Datei über ihre Freundin Maria aufrief.
Maria Luz Romero, Alter: 23, Adresse: Vapor 224, Centro Habano, La Habana, beschuldigt der Aufforderung zu einer sexuellen Handlung vor obiger Adresse. Jose Romero Gomez, 22, gleiche Adresse, beschuldigt des tätlichen Angriffs. Des weiteren waren Ehestand, Ausbildung und Anstellungsverhältnis angegeben, bevor die Aussage des Zeugen folgte.
Ich war auf dem Weg zur Universität, als diese Frau (Zeuge weist auf Maria Romero) aus ihrer Tür kam und mich nach der Uhrzeit fragte. Dann fragte sie, wohin ich wollte, und legte ihre Hand auf mein Geschlechtsteil. Ich sagte, zur
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