Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nacht in Havanna

Nacht in Havanna

Titel: Nacht in Havanna Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Cruz Smith
Vom Netzwerk:
abgewendet, so daß er den Weg zur Tür halb versperrte.
    Auf einmal war sie wieder in Hershey, auf den Viehwiesen, wohin die Silberreiher von ihren Schlafplätzen entlang des Flusses kamen. Die Vögel waren weiß wie Seifenspäne, und wenn sie den schwarzen Rauch aus den Schornsteinen der Zuckerfabriken kreuzten, galt ihre Angst der Reinheit der Silberreiher. Trotzdem landeten sie auf der Wiese und belauerten das Vieh, unempfindlich gegen Schmutz. Sie hatte die Vögel so gebannt beobachtet, daß sie nicht bemerkt hatte, daß inzwischen ein Bulle auf die Wiese gelassen worden war, genausowenig wie der Bauer sie gesehen hatte. Aber der Bulle erspähte sie.
    Es war das größte Tier, das ihr je unter die Augen gekommen war. Milchweiß mit nach unten gebogenen Hörnern, zwischen denen sich cremefarbene Locken kringelten, muskelpralle Schultern und ein Hodensack bis zu den Knien, rotunterlaufene Augen, von der gelangweilten Trägheit eines gewalttätigen Königs. Aber nicht dumm, nicht in dieser Situation. Denn er hatte die Kontrolle, er regierte. Und er wartete darauf, daß sie den ersten Schritt machte.
    Bis er von irgendwas abgelenkt wurde. Ofelia wandte den Kopf und sah eine Gestalt in Schwarz, die über den Zaun gesprungen war, mit beiden Armen winkte und von einem Fuß auf den anderen hüpfte. Es war der Priester der Stadt, ein blasser Mann, der immer so traurig wirkte. Seine Soutane flatterte, als er um das Tier herumtanzte, es verspottete und reizte und mit Lehmbrocken bewarf, bis der Bulle angriff. Dann hob der Priester seine Soutane an und machte die längsten Schritte, die Ofelia je gesehen hatte. Er sprang über den Zaun, vor dem Bullen, der einen tief eingelassenen Pfahl rammte und seine Frustration dann weiter an dem Holz ausließ, während Ofelia zum Zaun rannte. Sie erinnerte sich an ihren ersten tiefen Atemzug auf der sicheren Seite und daran, daß sie ohne Pause bis nach Hause gelaufen war. »Capitán Arcos hat gefragt, ob Sie uns alle in dem Motel sichergestellten Beweismittel übergeben haben«, sagte Luna.
    »Ja.«
    Luna verlagerte sein Gewicht, so daß sein massiger Körper ihr nun vollends den Weg versperrte, und ließ einen dicken Arm schlaff herunterhängen. »Alles?«
    »Ja.«
    »Sie haben uns alles gesagt, was Sie über die Sache wissen?«
    »Ja.«
    Der Sargento blickte zu der Nische mit dem Computer.
    »Was haben Sie gesucht?«
    »Nichts.«
    »Vielleicht kann ich Ihnen helfen.«
    »Nein.«
    Der Sargento bewegte sich nicht. Sie mußte sich an seinem Arm vorbeiquetschen, als wäre er die Linie, die genau festlegte, wo sie stand.
     
    17
     
    Arkadis Weg nach Chinatown führte ihn vorbei an der aquariumhaften Stille verlassener Warenhäuser, dem Schaufenster einer perfumeria, in dem nichts weiter ausgestellt war als eine Dose Mückenspray, und einem Juwelierladen, dessen Belegschaft an leeren Vitrinen lehnte. Doch auf der Galle Rayo tobte das Leben: rote Laternen, ein ganzes geröstetes Schwein, gebratene Paradiesfeigen und Pfannkuchen, Berge von Orangen, Zitronen, aufgeschnittene schwarze Knollengewächse mit weißem Fruchtfleisch, rote Paprika, grüne Tomaten in Papier, Avocados und tropische Früchte, für die Arkadi keinen Namen hatte, obwohl er an den Preisschildern mit Dollarzeichen erkannte, daß dieser Markt mitten im Zentrum von Havanna für private Händler war. Fliegen summten benommen im süßlichen Geruch reifer Ananas und Bananen. Salsaklänge aus einem tragbaren Radio konkurrierten mit wehmütigen kantonesischen Fünftonskalen, und Kunden mit vagen, aber noch deutlich erkennbar chinesischen Zügen redeten in kubanischem Spanisch auf die Händler ein. An einem Stand an der Ecke spaltete ein Metzger den Kopf eines Schweines. Eine Zuckerwatteverkäuferin, deren Haar mit blauen Zuckerfäden verziert war, die aus einer Trommel aufstiegen, las Arkadis Zettel und zeigte auf einen Aufgang, über dem das Schild »Karate Cubano« prangte. Arkadi hatte sich beeilt. Er war vom Chinesischen Friedhof zurück zu Pribludas Wohnung und von dort nach Chinatown gegangen, weil sein Verstand endlich wieder normal funktionierte. Abuelita, das wachsame Auge des Komitees zur Verteidigung der Revolution, hatte gesagt, daß Pribluda die Wohnung am Malecon donnerstags mit seinem häßlichen kubanischen Koffer verlassen hatte. Das Mädchen Carmen hatte behauptet, daß Onkel Sergej donnerstags Karate übte. Und laut seiner eigenen Kostentabelle war Donnerstag der Tag von Pribludas ungeklärter

Weitere Kostenlose Bücher