Nacht in Havanna
Hundert-DollarAusgabe. Paßte das nicht alles zusammen? War es nicht möglich, daß der Spion Sergej Pribluda jeden Donnerstag in einem gewöhnlichen kubanischen Koffer nicht seinen schwarzen Gürtel, sondern einen Briefumschlag voller Geld mit sich herumgetragen hatte, um in einem Karatestudio in Chinatown seinen »chinesischen Kontakt« zu treffen? Wahrscheinlich bewahrte der Oberst in einem Spind einen Trainings- oder Karateanzug auf, ein hinreichender Vorwand, um die Umkleidekabine zu betreten, wo in Arkadis Vorstellung kein Wort gewechselt werden mußte, wenn der Kontaktmann den gleichen Koffer besaß. Die beiden Koffer ließen sich im Handumdrehen austauschen, und der anonyme Kontakt würde schon wieder auf der Treppe sein, bevor Pribluda seine Schuhe aufgebunden hatte, um die tödlichen Tritte zu trainieren, die er Carmen gezeigt hatte. Die gesamte Transaktion würde schnell, leise und professionell über die Bühne gehen. Arkadi hatte den Koffer, und heute war Donnerstag.
Doch als Arkadi keuchend die Treppe zu der Tür hinaufstieg, hinter der sich das Studio befinden sollte, entdeckte er darüber ein Schild mit der Aufschrift »Evita - La Salon Nueva de Belleza«. Drinnen saßen zwei Frauen mit blauen Schlammasken im Gesicht auf Friseurstühlen, während Arbeiter noch damit beschäftigt waren, einen dritten Stuhl im Boden festzuschrauben. Arkadi ging wieder zu dem Markt zurück, wo er erneut seinen Zettel vorzeigte, nur um noch einmal die gleiche Fehlinformation zu erhalten.
In einem chinesischen Restaurant, in dem niemand Chinese war und wo Frühlingsrollen mit einem Klecks Ketchup serviert wurden, fand Arkadi einen Kellner, der genug Englisch sprach, um ihm zu erklären, daß alle Kampfsportstudios in Chinatown zugemacht hatten, obwohl es in Havanna noch etwa zwanzig von ihnen geben mußte. Ihm blieben vier Tage. Er sollte Pribludas Sohn anrufen für den Fall, daß der Junge zum Flughafen kommen wollte, vorausgesetzt, er konnte seine Pizzaöfen ein paar Stunden lang verlassen. Weitere Pläne hatte Arkadi nicht. Er war am Ende. Er hatte den klaren Blick eines Mannes, der überhaupt keine Pläne mehr hatte.
Nun, da war immer noch das Foto von Pribluda, das er finden sollte, und einen Moment lang hatte Arkadi das Gefühl, Pribludas Geist zwischen Bergen exotischer Früchte gesehen zu haben. Die Wände des Restaurants waren bordellrot, an einer von ihnen hing das übliche Bild von Che Guevara, der mit seiner Baskenmütze so sehr wie Christus aussah, daß er schon fast unirdisch wirkte. Bei seinen Spaziergängen durch die Straßen hatte Arkadi in die offenen Fenster geblickt und festgestellt, daß die Leute viel mehr Porträts von Che als von Castro aufgehängt hatten, obwohl Ches Martyrium Fidel erst bestätigt hatte. Aber Märtyrer hatten den Vorteil, auf romantische Weise jung zu bleiben, während von Fidel, dem Überlebenden, zwei Versionen existierten: die des leidenschaftlichen Revolutionärs, dessen Zeigefinger jeden Punkt seiner flammenden Reden unterstrich, und die des in Gedanken versunkenen Graubarts.
Arkadi fühlte sich von Dummheit verfolgt. Es war aufregend gewesen, einen Moment lang an die wiedergefundene Macht der Deduktion zu glauben, so als würde man in einer verfallenen Fabrik eine alte Dampfmaschine finden und glauben, man könnte die Kolben wieder zum Leben erwecken, indem man ein Streichholz unter den Kessel hielt. Hier stampften keine Kolben mehr, dachte er. Gott sei Dank, daß Kommissarin Osorio nicht Zeugin dieses Fiaskos geworden war.
Er verließ das Restaurant, drängte sich über den Markt und machte einen Bogen um eine Gruppe von Jungen, die vor einem Kino standen und sich gegenseitig anrempelten. Es war ein schäbiges, chinarot gestrichenes Eckkino mit einem pagodenartigen Dachfuß und Plakaten, die einen Karatemeister im Sprung zeigten. Der Titel des Films war auf chinesisch und spanisch angegeben, doch in der Ecke des Posters stand in eckigen Klammern auf englisch Fists of Fear! Arkadi erinnerte sich an den Ticketabriß in Pribludas Hose. Also das hatte die kleine Carmen gemeint, als sie ihn gefragt hatte, ob er Fists of Fear gesehen hatte. Er stellte sich vor der Kasse an, zahlte vier Pesos und erklomm die roten Stufen in die Dunkelheit.
Drinnen roch es nach Zigaretten, Bier und Räucherstäbchen. Die Sitze waren abgewetzt und geflickt. Arkadi setzte sich in die letzte Reihe, um die Zuschauer im Blick zu haben. Reihen von Köpfen wippten auf und ab und johlten vor
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