Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)

Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)

Titel: Nacht ist der Tag: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Stamm
Vom Netzwerk:
Fotos sehen?, fragte er.
    Sie nickte.
    Er sagte, er könne ihr nicht viel anbieten. Bier, ein Glas Rotwein oder Leitungswasser.
    Bier ist okay, sagte Gillian und setzte sich auf einen alten Sessel, in dem sie tief einsank. Hubert nahm zwei Dosen tschechisches Bier aus dem Kühlschrank und leerte sie sorgfältig in große Gläser mit Goldrand. Er wirkte konzentriert, als wäre es eine schwierige Aufgabe. Er brachte ihr eines der Gläser, nahm sich einen Stuhl und stellte ihn etwa vier Meter von Gillian entfernt auf. Während er sich setzte, nahm er einen Schluck Bier und stellte das Glas dann neben sich auf den Boden.
    Sie sagte noch einmal, die Bilder gefielen ihr, aber er schien nicht darüber reden zu wollen. Er antwortete einsilbig auf ihre Fragen und nahm dazwischen kleine Schlucke von seinem Bier. Schließlich stand er auf und holte einen alten Diaprojektor, der in einer Ecke des Raumes stand, und stellte ihn auf einen wackligen Barhocker. Er löschte das Deckenlicht, rückte seinen Stuhl neben Gillians Sessel und schob das erste Magazin in den Projektor.
    Ohne ein Wort ging Hubert die Bilder durch, ein Magazin nach dem anderen. Es waren Hunderte von Aktaufnahmen, Frauen, die bügelten, Staub wischten, lasen oder Kaffee kochten. Von jeder Frau gab es Dutzende von Aufnahmen. Anfangs hatten sie oft einen belustigten Gesichtsausdruck, später wurden sie ernster und schauten nicht mehr in die Kamera.
    Gillian stand auf, ging zum Fenster und setzte sich auf die Fensterbank. Hubert bemerkte es nicht. Sie sah seine Silhouette und an der Wand die nackten Frauen. Sie stellte sich sein Gesicht vor, blass beleuchtet vom Widerschein der Projektionen, seinen kalten, kritischen Blick. Sie musste an eine Fotografie vom Publikum eines Kinos denken, die sie einmal gesehen hatte, unvollständige Gesichter mit weit aufgerissenen Augen und zum Lachen geöffneten Mündern. So hatte sie sich ihre Zuschauer immer vorgestellt.
    Im nächsten Magazin waren Aufnahmen einer kleinen Frau mit breitem Becken und großen, hängenden Brüsten. Sie hatte kurzes blondes Haar und buschige Achselhöhlen. Ihre Körperhaltung und ihr Gesichtsausdruck hatten etwas Theatralisches. Sie hängte Wäsche auf einen niedrigen Wäscheständer in einem engen Bad, Babykleider und Männerstrümpfe. Sie zog ein Buch aus einem Regal, kauerte auf dem Boden und wischte mit einem kleinen Besen etwas auf, vielleicht die Reste einiger Kekse, die sie ihrem Kind gegeben hatte. Die Wohnung war vollgestopft mit Dingen und wirkte unordentlich. Auf den letzten Bildern sah es aus, als fange die Frau gleich an zu weinen.
    Sie sieht furchtbar einsam aus, sagte Gillian. Sind Sie sich überhaupt bewusst, was Sie mit diesen Frauen anstellen?
    Sie machen ja freiwillig mit, sagte Hubert und wechselte das Magazin. Selbst in ihrer Nacktheit versuchen sie alles, um sich nicht zu entblößen. Sie verhüllen sich mit ihren Bewegungen, mit ihrem Lächeln, indem sie sich zur Schau stellen.
    Gillian war erstaunt, dass sie sich nicht an die Nacktheit gewöhnte, wie in der Sauna oder im Duschraum des Fitnessclubs. Je mehr Bilder sie sah, desto fremder wurden ihr die Körper. Ein großes Muttermal, eine Hautfalte, das zu einem schmalen Streifen rasierte Schamhaar, alles bekam eine übergroße Bedeutung. Die Körper zerfielen, wirkten unproportioniert, unförmig, formlos.
    Geht es Ihnen auch so?, fragte sie.
    Sie fangen an, sie zu sehen, sagte Hubert. So male ich sie, Detail für Detail, Fläche für Fläche. Schon beim Fotografieren versuche ich, möglichst nicht präsent zu sein. Deshalb verwende ich eine Kamera mit großem Sucherschacht. Wenn die Modelle in die Kamera schauen, sehen sie nur ihr Spiegelbild in der Linse des Objektivs.
    Er hatte schnell die Bilder einer jungen, schlaksigen Frau vorbeiziehen lassen, bei einem, auf dem sie sich in einem Spiegel betrachtete, hielt er an. Die Frau ließ ihre Arme hängen und hatte den Bauch ein wenig vorgestreckt. Ihr Blick war kritisch, als wäre sie nicht zufrieden mit dem, was sie sah.
    Daraus könnte man vielleicht etwas machen, sagte er, obwohl Spiegel immer heikel sind.
    Was hat die Frau davon, wenn sie das Bild nie sehen wird?, fragte Gillian.
    Nichts, sagte Hubert, sie ist nur das Modell. Ich male ja keine Porträts.
    Und warum machen sie dann überhaupt mit?
    Keine Ahnung, sagte er. Vielleicht haben sie das Gefühl, erkannt zu werden. Er schaltete den Projektor aus. Sind Sie müde?
    Gillian nickte.
    Ich bleibe noch ein wenig hier, sagte

Weitere Kostenlose Bücher