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Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)

Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)

Titel: Nacht ist der Tag: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Stamm
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aus Geilheit, Gier und Eitelkeit. Bei mir ist es vermutlich …
    Der Tonmann sagte, er habe ein Geräusch gehört im Hintergrund, ob sie die letzten Sätze wiederholen könnten, aber der Schriftsteller weigerte sich.
    Das ist eben die Krux mit der Wirklichkeit, sagte er, sie lässt sich nicht wiederholen, nicht korrigieren. Vielleicht lesen wir ja deshalb Bücher.
    Würden Sie denn etwas anders machen in ihrem Leben, wenn Sie es noch einmal leben könnten?, fragte Gillian.
    Der Schriftsteller schien plötzlich ärgerlich und sagte, er sei müde, und antwortete nur noch unwillig auf ihre weiteren Fragen. Nach vier Stunden verabschiedete sich Gillian. Sie würde es schon irgendwie schaffen, aus dem gesammelten Material einen Vier-Minuten-Beitrag zu machen, aber mit der Wirklichkeit würde er noch weniger zu tun haben als die dreihundertfünfzig Seiten der besprochenen Autobiographie.

    Während sie in Hamburg war, guckte sie nicht in den E-Mail-Account von Fräulein Julie. Ihre Rolle in diesem Mailwechsel gefiel ihr nicht mehr.
    Als sie vier Tage später wieder zu Hause war, schaute sie doch im Postfach nach. Hubert hatte zwei Mails geschrieben, eine gleich, nachdem sie den Computer runtergefahren hatte, die zweite einen Tag später. In der ersten beschrieb er ausführlich, wie er sie küssen würde. Er hatte sich ein ziemlich genaues Bild von ihr gemacht, schrieb von ihrem kurzgeschnittenen Haar und ihrer schmalen Taille. In der zweiten Mail entschuldigte er sich für die erste. Er schrieb, er habe sich mitreißen lassen, es tue ihm leid. Gillian wusste nicht, über welche Mail sie sich mehr ärgerte. Sie entschied sich, Hubert zu treffen. Sie schrieb, sie wolle sich von ihm weder malen noch küssen lassen, aber sie sei einverstanden, mit ihm etwas zu trinken. Als Treffpunkt schlug sie ein Café in einem Außenviertel vor, in dem sie sich einmal mit einer Kuratorin getroffen hatte. Sie schaute auf die Uhr.
    Ich werde heute Abend um sieben da sein, schrieb sie, Sie werden mich leicht erkennen. Julie. Huberts Antwort kam schnell, sie war freundlich, aber zurückhaltend.
    Matthias kam normalerweise erst spät nach Hause. Gillian schrieb auf ein Post-it, sie müsse noch einmal kurz ins Büro, sie wisse noch nicht, wann sie nach Hause komme. Sie überlegte lange, was sie anziehen sollte, schließlich entschied sie sich für die unscheinbarsten Sachen, die sie finden konnte, eine hellbeige Cordhose und ein weißes T-Shirt mit einem Spitzeneinsatz über der Brust. Über die Schultern hängte sie sich einen grauen Pullover. Sie schminkte sich nicht, obwohl sie sonst keinen Schritt vor die Tür machte, ohne wenigstens ein bisschen Puder und Mascara aufzutragen.

    Gillian war zu früh im Café. Außer ihr saßen nur zwei Frauen da und ein junges Pärchen, das mit sich selbst beschäftigt war. Die Frauen schauten sie neugierig an, vielleicht hatten sie sie erkannt. Sie setzte sich an einen Tisch ganz hinten und bestellte einen Pfefferminztee.
    Hubert kam kurz nach sechs. Als er Gillian sah, wirkte er erleichtert. Er trat an ihren Tisch und lächelte.
    Ach Sie sind das, ich hätte es mir denken können.
    Gillian war nicht aufgestanden, er streckte ihr die Hand hin. Er wirkte weniger sicher als im Fernsehstudio, jedenfalls war er Gillian gleich viel sympathischer. Hubert schwieg, und auch Gillian wusste nicht, was sie sagen sollte. Endlich fragte er, weshalb sie sich Fräulein Julie nenne.
    Das Stück von Strindberg, sagte Gillian. Ich habe die Rolle mal gespielt. Das war meine Abschlussarbeit an der Schauspielschule.
    Die Kellnerin kam, Hubert lächelte sie an und bestellte ein Bier. Als sie es kurz darauf brachte, nahm er es ihr mit einer witzigen Bemerkung aus der Hand und trank sofort einen Schluck. Die Kellnerin entfernte sich vom Tisch, man sah ihrem Gang an, dass sie Huberts Blicke spürte.
    Gefällt Sie Ihnen?
    Er entschuldigte sich. Ich sehe in jedem Gesicht das potentielle Bild.
    Ich hatte den Eindruck, Sie schauen eher auf ihren Hintern, sagte Gillian. Was sehen Sie denn in meinem Gesicht?
    Er sah sie aufmerksam an. Ich weiß nicht, sagte er, ich schaue mir immer Ihre Sendung an.
    Tatsächlich?
    Ihr Gesicht ist mir zu vertraut.
    Dann schauen Sie genauer hin, sagte Gillian. Sie mochte es, wie Hubert sie jetzt betrachtete, mit einem forschenden, sachlichen Blick.
    Ihr Teint ist weniger rein, als es im Studio aussah, sagte er schließlich, das muss die Schminke sein. Ihre Nase glänzt ein wenig. Und Ihre Augenbrauen sind

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