Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)
Kulturjournalistin für die Zuschauer, für die Medien, für Matthias und sich selbst. Sie machte keine groben Fehler, Matthias spielte mit, im Grunde war er der bessere Schauspieler als sie. Dauernd mussten sie sich zu irgendwelchen Anlässen zeigen, Auskunft geben, sich darstellen. Sie sprachen lauter, bewegten sich anders in der Öffentlichkeit. Wenn sie nach Hause kamen, angetrunken und müde, und nebeneinander im Bad standen und die Zähne putzten, musste Gillian manchmal über die zwei Gesichter im Spiegel lachen. Aber selbst dieses Lachen war Teil des Spiels.
Gillian wurde übel von der Zigarette. Sie drückte sie aus und ging hinein. Vor der Kaffeemaschine blieb sie kurz stehen, dann ging sie ins Schlafzimmer und legte sich noch einmal ins Bett. Das Fenster war einen Spaltbreit geöffnet, und der Regen war nur noch als gleichmäßiges Rauschen zu hören. Den ganzen Tag über lag sie im Bett und schob jeden Gang in die Küche oder zur Toilette hinaus, bis sie es kaum mehr aushielt. Die Schmerzen hatten nachgelassen, aber das machte es nicht leichter, sie hatten sie in ihren Körper gezwungen, hatten die Grenzen deutlich gemacht. Mit dem Schmerz waren die Anhaltspunkte verschwunden, und Gillian musste sich mühsam zusammensuchen. Sie blätterte durch ihre alten Fotoalben. Es gab die Familienalben mit Fotos von ihr als Kind, Bildern von Ferienreisen und Geburtstagsfeiern, Familienporträts, die sich über die Jahre hin kaum veränderten. In diesen Alben waren erste Bilder von Schultheateraufführungen, Gillian als Mutter Maria, als Schneewittchen, als Katze in einem Musical. Irgendwann hatte ihre Geschichte sich von jener der Familie getrennt. Alles, was ihren Beruf betraf, war in einem eigenen Album dokumentiert, das Gillian irgendwann angefangen hatte. Theaterprogramme, Interviews, Bilder von Partys, Kritiken, fein säuberlich ausgeschnitten und eingeklebt. Die erste Seite, auf der in den anderen Alben ein Titel oder Jahreszahlen standen, war leer.
Sie las ein Interview, das sie gegeben hatte, kurz nachdem sie die Moderation der Sendung übernommen hatte. Jede Woche wurden die immer gleichen Fragen jemand anderem gestellt. Die Journalistin war nett gewesen, sie hatten sich in einem Café getroffen. Wenn Gillian nicht weitergewusst hatte, hatten sie sich zusammen etwas ausgedacht. Wann haben Sie zum ersten Mal Liebe gemacht? An einem Nachmittag. Was wollten Sie schon immer wissen? Was meine Freundinnen wirklich von mir halten. Was war der traurigste Moment ihres Lebens? Sie waren beide ratlos gewesen. Dann hatte die Journalistin vorgeschlagen: Mein Tod. Dabei ließen sie es bewenden.
Das Leben, das diese Illustriertenbilder zeigten, war auf unerklärliche Weise persönlicher, konkreter als die austauschbaren Familienbilder in den anderen Alben. In den Interviews wurde Gillian nach Dingen gefragt, über die sie mit ihren Eltern nie gesprochen hätte. Neben diesen konzentrierten und redigierten Gesprächen schienen jene, die sie zu Hause führte, erschreckend banal. Manchmal sprach die Mutter sie auf die Antworten an, die sie den Journalisten gegeben hatte. Glaubst du wirklich nicht an Gott? Gillian war sich nicht sicher. Es ist nur ein Interview, sagte sie dann, man muss ja irgendetwas sagen.
Sie hatte sich das eine oder andere Mal über ihre Bekanntheit beklagt, aber in Wirklichkeit hatte sie es geliebt, erkannt zu werden.
Ganz hinten im Album lagen ein paar Ausschnitte, die sie nicht eingeklebt hatte. Ein Bericht über ihre Hochzeit mit Matthias, eine Doppelseite mit Fotos aus der Kirche und vom Fest danach. Gillian war erstaunt gewesen, dass Matthias nichts dagegen gehabt hatte. Die Journalistin und der Fotograf fielen kaum auf, sie fügten sich besser in die Hochzeitsgesellschaft ein als manche von Matthias’ Freunden und Gillians Verwandten. Und sie hielten sich zurück und baten nur manchmal um ein Bild oder ein paar Sätze. Als Gillian eine Woche später den Bericht in der Illustrierten sah, war es ihr, als sei die Feier inszeniert gewesen. Danach wurde sie vorsichtiger. Aber nachdem sie für einige Zeit aus den Illustrierten verschwunden war, fehlte ihr die Aufmerksamkeit, und sie sagte zu, als man sie um eine Homestory bat. Matthias und sie in ihrer aufgeräumten Wohnung beim Lesen, Kochen, beim Essen und als verträumtes Liebespaar auf dem Balkon. Wir sind hereingelegt worden, dachte sie, das ist nicht unsere Wohnung, das ist nicht Matthias, das bin nicht ich. Als sie den Ausdruck in Matthias’
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