Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)
er. Soll ich Sie zum Auto bringen?
Bitte, sagte Gillian.
Sie brauchte einige Zeit, um den Weg nach Hause zu finden. Es war schon zehn, später, als sie gedacht hatte, aber der Verkehr war immer noch dicht. Sie war enttäuscht und ärgerte sich zugleich über ihre Enttäuschung. Er hätte sie wenigstens darum bitten können, ihm Modell zu stehen. Der Gedanke hatte einen eigentümlichen Reiz.
Während sie an einer Ampel wartete, schaltete sie ihr Handy wieder ein. Kurz darauf hörte sie dreimal hintereinander das SMS-Signal. An der nächsten Ampel las sie die Mitteilungen. Zwei waren von Matthias, die dritte hatte Hubert geschickt. Sie löschte die SMS, ohne zu antworten.
Gillian wachte früh auf. Sie hatte wieder Schmerzen, aber sie wollte keine Tabletten mehr nehmen. Im Bademantel trat sie hinaus auf den Balkon, um eine Zigarette zu rauchen. Es regnete, und es wehte ein kräftiger, kühler Wind. Sie hörte ein paar Vögel, aber es waren weniger als sonst. Der Gedanke an die Vögel, die vor dem Regen Schutz suchten, in irgendeinem Gebüsch kauerten, aufgeplustert und den Kopf eingezogen, rührte sie, dabei kam sie sich lächerlich pathetisch vor. Schleichend wurde es heller, aber der Himmel blieb grau, und der Regen ließ nicht nach.
Die Angst begann ganz unerwartet, sie schien von außen zu kommen, hatte nichts mit Matthias’ Tod oder dem Unfall zu tun, sondern mit dem Regen, dem grauen Himmel und der Leere, der Formlosigkeit des Tages, der anbrach. Die Angst ist die Möglichkeit der Freiheit, ein Satz, den sie vor langer Zeit gelesen und, ohne ihn recht zu begreifen, nie vergessen hatte. Sie verstand ihn noch immer nicht, aber es war ihr, als beschreibe er genau das, was sie empfand. Vor dem Haus gab es einen Sandkasten, die jämmerliche Parodie eines Kinderspielplatzes, über den eine graue Plane gespannt war. Das Prasseln des Regens auf dem Kunststoff war ganz nah und laut wie die einzelnen Rufe der Vögel vor dem Rauschen der Stadt. Es war seltsam, dass Gillian bei Regen immer an ihre Kindheit denken musste, als hätte es damals nur geregnet. Sie war vielleicht zehn oder zwölf Jahre alt, es war früher Morgen und sie war auf dem Weg zur Schule. Sie hörte das Geräusch des Regens auf ihrer Kapuze, Tropfen spritzten ihr ins Gesicht.
Gillian, sie sprach ihren Namen laut aus. Sie musste an das Mädchen denken, das eben die Schauspielschule abgeschlossen und sein erstes Engagement an einem unbedeutenden Provinztheater bekommen hatte. Sie hatte einen Zwerg im Weihnachtsmärchen gespielt, ein Dienstmädchen in einer Komödie, Rebekka Gibbs in Unsere kleine Stadt . Sie erzählte George vom Brief, den Jane Crofut vom Pfarrer bekommen hatte, als sie krank war. Auf dem Umschlag stand: Jane Crofut, Crofut-Farm, Grover’s Corners, Sutten County, New Hampshire, Vereinigte Staaten von Amerika, Nordamerikanischer Kontinent. Westliche Halbkugel. Erde. Sonnensystem. Weltall. Geist Gottes. Was du nicht sagst, sagte George, der nie etwas begriff. Und der Briefträger hat den Brief trotzdem gebracht. Immer, wenn sie diesen Satz sagte, war sie nahe daran, zu weinen.
Es war eine Zeit gewesen, in der alles möglich zu sein schien, aber die Freiheit verunsicherte und ängstigte sie. Sie litt nicht an Lampenfieber, das hatte sie seltsamerweise nie gehabt, sondern an einer Angst, die nach den Vorstellungen schlimmer war als davor. Ihr Freund war an ein anderes Theater engagiert worden, aber sie hatten sich nicht die Mühe gemacht, sich zu trennen. Sie telefonierten nur immer seltener und dann gar nicht mehr. Gillian war auf sich allein gestellt, sie lebte in einer engen Wohnung über einer Pizzeria, in der es immer zu warm war. Außerhalb des Theaters hatte sie keine Freunde, und im Theater eigentlich auch keine.
Es dauerte einige Zeit, bis sie merkte, dass sie keine gute Schauspielerin war und auch keine werden würde. Sie spielte Frauen, die sich hingaben, die bedingungslos liebten, sich aufopferten, aber sie konnte ihre Rollen nie ganz ernst nehmen. Ein Teil von ihr schaute sich immer selbst beim Spielen zu. Ich kann nicht bereuen, nicht fliehen, nicht bleiben, nicht leben – nicht sterben! Das Fräulein ging entschlossen zur Tür hinaus, aber das Publikum musste spüren, dass es nicht in die Scheune ging, um sich zu töten, sondern zum Abschminken in die Garderobe.
Erst nachdem sie in den Journalismus eingestiegen war, war sie sicherer geworden. Sie bekam den Moderationsjob und spielte die schöne und erfolgreiche
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