Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)
habe keine Lust, ihm Modell zu stehen. Sie habe sich vorgestellt, wie er sie in ihrer Wohnung fotografiere, und es sei ihr unangenehm gewesen. Nicht die Nacktheit, aber wie er in ihre Wohnung eingedrungen sei, sich umgeschaut und sich ein Bild gemacht habe von ihrem Leben. Nichts für ungut.
Sie trank einen Kaffee und rauchte eine Zigarette. Während sie duschte, stellte sie sich vor, wie Hubert sie porträtierte. Sie schaute sich im Atelier um. Er zeigte auf ein altes Ledersofa. Ohne den Mantel auszuziehen, setzte sie sich. Er nahm einen Stuhl, setzte sich ihr gegenüber und fing an, sie zu zeichnen. Nach einer Weile legte er den Zeichenblock weg und schien zu zögern. Schließlich sagte er mit leiser Stimme, so dass sie ihn kaum verstand, sie könne sich hinter dem Wandschirm ausziehen.
Als Gillian nackt hinter dem Schirm hervortrat, war Hubert dabei, einen Film in eine große Kamera zu legen. Ohne hochzusehen bat er sie, sich mit einem Buch auf das Sofa zu legen. Er schaute in den Sucherschacht der Kamera, sie konnte seine Augen nicht sehen, aber sie spürte seinen indiskreten, kalten Blick.
Gillian packte ihre Reisetasche. Sie hatte noch Zeit und checkte ihre E-Mails. Hubert hatte schon geantwortet. Er schrieb, wenn es ihr unangenehm sei, in ihrer Wohnung fotografiert zu werden, könnten sie sich in seinem Atelier treffen. Du verrätst dich, dachte sie, du änderst die Regeln während des Spiels.
Die Mails gingen im Minutentakt hin und her.
Sind Sie allein?
Das würde Ihnen so passen.
Also sind Sie allein.
Jetzt missbrauchen Sie mich doch.
Warum?
Sie stellen sich mich vor.
Ich muss mir Sie vorstellen, wenn Sie sich nicht zeigen.
Warum malen Sie nur Frauen? Und warum müssen sie nackt sein?
Diesmal dauerte es länger, bis eine Antwort kam. Die Antwort enttäuschte Gillian. Sie dachte nach, tippte eine Frage, dann löschte sie sie wieder. Sie schrieb die Frage noch einmal.
Schlafen Sie mit ihren Modellen?
Als sie die Mail abschickte, kam eine weitere von Hubert. Er schrieb, durch die Nacktheit entstehe zwischen Maler und Modell ein Gefälle, eine erotische Spannung. Die Kunst bestehe darin, diese Energie für das Bild zu nutzen.
Jetzt bereute Gillian ihre Frage. Wieder dauerte es einige Zeit, bis Huberts Antwort kam.
Wollen wir uns treffen?
Das ist unprofessionell.
Wollen wir uns treffen?
Sie wiederholen sich.
Das Leben wiederholt sich.
Nein.
Was wollen Sie dann?
Gillian dachte nach. Sie tippte ihre Antwort, las sie noch einmal durch und drückte mit einem Lächeln auf Senden. Sie wartete nicht auf seine Antwort und schaltete den Computer aus. Als das Geräusch des Lüfters verstummte, kam es ihr sehr still vor in der Wohnung.
In Hamburg regnete es. Am Flughafen nahm Gillian ein Taxi zur Wohnung des Schriftstellers. Das Kamerateam war schon da, und der Schriftsteller regte sich auf, weil der Kameramann das Wohnzimmer umstellen wollte. Auch gegen das Schminken wehrte er sich, obwohl er das bestimmt schon hundertmal über sich hatte ergehen lassen. Gillian erklärte ihm, dass es nur darum gehe, ihn möglichst natürlich aussehen zu lassen. Immerhin schien sie ihm zu gefallen, und mit der Zeit entspannte er sich ein wenig und fing sogar an, zögerlich mit ihr zu flirten. Sie filmten ihn an seinem Schreibtisch und vor seiner Bücherwand, beim Spazieren in der Speicherstadt, in einem schicken Café, in das er nie freiwillig gehen würde, wie er sagte. Gillian bat ihn, sich Notizen zu machen, aber er hatte kein Papier dabei. Sie lieh ihm ihr schwarzes Moleskine-Notizbuch, und er schrieb etwas hinein. Dann gingen sie wieder zu ihm nach Hause, um das Interview zu filmen. Gillian setzte sich dicht neben die Kamera. Als sie das Notizbuch aufklappte, in dem ihre Fragen standen, sah sie, was er hineingeschrieben hatte: So stellen sich die Leser den Schriftsteller vor. Das Fernsehen erfüllt alle meine Erwartungen. Sie ließ sich nichts anmerken und stellte ihre erste Frage.
Der Schriftsteller schien gekränkt zu sein, dass er mit seiner Autobiographie mehr Aufmerksamkeit erregte und mehr Erfolg hatte als mit seinen ambitionierten Prosaexperimenten.
Dabei ist das Buch genauso eine Fiktion, sagte er.
Und was ist die Wirklichkeit?, fragte Gillian.
Wenn Sie die Wirklichkeit suchen, müssen Sie aus dem Fenster schauen.
Warum schreiben Sie dann?
Er schaute sie an mit einem mitleidigen Lächeln. Aus beruflichen Gründen, hat einer meiner Kollegen auf diese Frage jeweils geantwortet. Und ein anderer,
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