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Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)

Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)

Titel: Nacht ist der Tag: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Stamm
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ungewöhnlich breit für die einer Frau.
    Gillian lächelte gequält. So genau wollte ich es nun auch nicht wissen.
    Ich mag den leichten Flaum auf Ihrem Hals, sagte Hubert, und die Beweglichkeit Ihres Gesichts. Wie Sie manchmal die Augen weit aufmachen. Sind Sie kurzsichtig?
    Ein bisschen.
    Hubert fragte, warum sie ihn habe sehen wollen. Gillian zuckte mit den Schultern. Sie schwiegen wieder, aber es war nicht das unangenehme Schweigen von zwei Leuten, die sich nichts zu sagen haben. Irgendwann klingelte Gillians Handy. Sie schaute kurz auf das Display und drückte den Anruf weg.
    Zeigen Sie mir ihre Bilder?
    Ja, sagte er, stand auf und ging zur Theke, um zu bezahlen.
    Obwohl es erst Ende September war, kündigte sich der Herbst schon an. Draußen dämmerte es, und es war kühl geworden.
    Mein Wagen steht im Parkhaus, sagte Gillian.
    Hubert setzte sich auf den Beifahrersitz und erklärte ihr den Weg. Während der Fahrt fragte er, was sie in ihrer Freizeit mache. Ein bisschen Sport, Schwimmen und Joggen, sagte Gillian. Und ich lese viel. Und Sie? Sie hatte seit Ewigkeiten kein solches Gespräch geführt und musste lächeln. Gleich fragen Sie mich, was für Musik ich höre.
    Die Fahrt dauerte keine Viertelstunde. Hubert hatte sein Atelier in einer ehemaligen Spinnerei am Rand der Stadt. Im Süden lag dunkel eine bewaldete Hügelkette, der Hang im Norden war weniger hoch. Das Tal war eng hier und bebaut mit hässlichen Industriegebäuden. Der Haupttrakt der Spinnerei war nur noch eine Ruine, das Dach eingestürzt, die Fenster mit Brettern vernagelt. Die Mauern wurden von einem Gerüst aus dicken Stahlträgern gestützt, um sie am Einstürzen zu hindern.
    Sie gingen über den Parkplatz auf ein Nebengebäude zu. Am noch hellen Himmel war eine ganz schmale Mondsichel zu sehen. Als Hubert und Gillian sich dem Eingang näherten, ging eine Außenlampe an. Hubert schloss die mit Graffiti verschmierte Metalltür auf, machte Licht und führte Gillian durch einen schmalen Flur an einigen Türen vorbei. Sein Atelier war ganz hinten, der Raum war groß und fast leer, den Boden bedeckte ein von Farbflecken übersäter Linoleumboden. Die Wände hatten eine unbestimmte gelbliche Farbe, an manchen Stellen waren grau die Konturen von Regalen zu sehen, die dort einmal gestanden hatten. An der Decke waren Leuchtstofflampen, die den Raum in ein grelles, kaltes Licht tauchten. Eine Seite des Ateliers nahmen hohe Fenster ein, die Jalousien waren heruntergelassen. An einer Wand stand ein hohes Metallregal voller Flaschen und Tuben, Pinsel, Stapel von Büchern und Zeichenblocks. Es gab ein Sofa, ein paar alte Stühle und in einer Ecke eine Matratze, die auf dem Boden lag. Auf einem kleinen Kühlschrank stand eine einzelne Kochplatte und darauf ein verbeulter Aluminiumtopf. An einer Wand lehnten nebeneinander drei offenbar neuere Gemälde, die jenen in der Ausstellung glichen, eines davon war noch nicht fertig. Daneben lehnte ein halbes Dutzend umgedrehter Leinwände, die mit einer durchsichtigen Plastikfolie abgedeckt waren. Eine große, leere Staffelei stand in der Mitte des Raumes. Hubert zog ein paar Mappen aus dem Regal und legte sie auf einen improvisierten Tisch aus zwei Holzböcken und einer dicken Spanplatte. Er öffnete eine nach der anderen und blätterte schnell durch Skizzen, angefangene und fertige Zeichnungen, als wären sie nicht deswegen hier. Räume, Körper, Körperteile, manchmal drehte er eine der Zeichnungen um, und schaute sie an, als sähe er sie zum ersten Mal. Er sagte nur ein paar Worte, wie zu sich selbst. Die letzte Mappe legte er ungeöffnet beiseite. Gillian konnte noch sehen, dass Astrid darauf stand. Dann ging Hubert zu den Leinwänden, die an der Wand lehnten, entfernte die Plastikfolie und kippte eine nach der anderen gegen sich. Gillian stand neben ihm.
    Die meisten Sachen hängen ja in der Ausstellung, sagte er, das sind nur ein paar ältere Bilder.
    Auf allen war dieselbe Frau in unterschiedlichen Positionen zu sehen.
    Wer ist das?, fragte Gillian.
    Er gab keine Antwort. Sie schwiegen jetzt beide, nur wenn es zu schnell ging, legte Gillian ihre Hand auf seine und hielt sie einen Moment fest. Von oben betrachtet war es, als schaue man durch eine Dachluke in eine fremde Wohnung.
    Schön, sagte Gillian, als Hubert den Stapel zurück an die Wand lehnte. Ihr Handy klingelte wieder. Ohne auf das Display zu schauen, schaltete sie es aus. Hubert hustete nervös und machte einen Schritt von ihr weg.
    Wollen Sie die

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