Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)
Gesicht betrachtete, kam es ihr plötzlich vor, als sei er Teil der Verschwörung, als hätte er es die ganze Zeit gewusst.
Am nächsten Tag schien die Sonne. Draußen war es kühl, aber in der Wohnung war es fast zu warm. Der Arzt hatte Gillian verboten, in die Sonne zu gehen, sie wollte sich ohnehin nicht zeigen. Am Mittag kochte sie ein paar Nudeln. Nach dem Essen bestellte sie in einem Online-Shop Lebensmittel. Sie füllte ihren Warenkorb mit allem, was sie bisher gemieden hatte, tiefgekühlten Fertiggerichten, Würsten, Chips, Süßigkeiten, Toastbrot, Ketchup und Mayonnaise. Sie kaufte so viel ein, dass es für die ganzen drei Wochen reichte, und bezahlte mit der Kreditkarte. Gillian fing an, die Kleider und Schuhe von Matthias zusammenzuräumen. Sie steckte alles in große Mülltüten. Mit den Krücken war es mühsam, die Sachen ins Gästezimmer zu schaffen. Die Papiere aus Matthias’ Schreibtisch verstaute sie in einer Kiste. Margrit hatte gesagt, Gillian solle mit den Sachen machen, was sie für richtig halte. Manchmal saß sie minutenlang da und starrte einen Gegenstand an oder ein Kleidungsstück.
Der Lieferant des Online-Shops kam gegen Abend. Er klingelte, und Gillian drückte den Türöffner. Als er oben noch einmal klingelte, sagte sie durch die geschlossene Tür, er solle die Sachen einfach abstellen. Der Mann stand noch einen Moment lang da und ging dann. Erst als Gillian den Motor des Lieferwagens hörte, öffnete sie vorsichtig die Tür.
Sie aß viel in den kommenden Wochen. Sie schaute fern, surfte im Internet, schlief lange. Ihre Eltern hatten auf dem Festnetz angerufen und, als sie nicht abnahm, auf dem Handy. Gillian sagte, es gehe ihr gut, sie brauche Ruhe, und versprach, die Eltern bald zu besuchen, nächste Woche, vielleicht übernächste.
Du meldest dich, wenn du etwas brauchst?, fragte die Mutter.
Ich brauche Zeit, sagte sie. Es hat nichts mit euch zu tun.
Von jetzt an nahm sie das Telefon nicht mehr ab, sie schaute nicht einmal mehr auf das Display, wenn jemand anrief. Auch E-Mails löschte sie, ohne sie richtig zu lesen. Sie wartete darauf, dass Hubert sich bei ihr meldete, aber das tat er nicht. Vermutlich wusste er noch nicht einmal, was geschehen war.
Nachts träumte Gillian von Männern, die über sie herfielen, sie vergewaltigten und verstümmelten. Ihr Körper explodierte, ihr Fleisch flog in Fetzen durch die Wohnung, die Wände waren voller Blut. Es war dunkel in den Räumen, trotzdem war alles deutlich zu erkennen. Mitten in der Nacht erwachte sie. Sie lauschte in die Dunkelheit. Es war ganz still, aber sie konnte die Leere hören. Sie dachte an die Momente am Schluss der Aufzeichnungen, wenn der Tontechniker sagte, Atmosphäre, und alle erstarrten, damit er noch eine Minute der Stille aufnehmen konnte.
Die Tage vergingen wie das Wetter in einem zögernden Vor und Zurück. Es wurde kalt, dann über Nacht wieder wärmer. Einmal fiel in wenigen Stunden sehr viel Schnee, aber schon nach ein paar Tagen war er wieder getaut. Gillian langweilte sich nicht mehr. Manchmal holte sie morgens nicht einmal die Zeitung aus dem Briefkasten. Sie dachte oft an Matthias und an ihr früheres Leben, aber seinen Tod begriff sie noch immer nicht. Die Trauer kam schnell und unerwartet, ein plötzlicher heftiger Schmerz, der sie schwindeln machte.
Seit Tagen trug sie denselben Pyjama, sie duschte und wusch sich nicht und aß nur Junkfood. Sie beobachtete, wie ihr Körper sich veränderte, sie nahm zu und bekam Pickel am Rücken und am Kinn. Zum ersten Mal seit Jahren nahm sie ihren Körpergeruch wahr.
An einem sonnigen Tag entschloss sie sich, einen Ausflug zu machen. Jetzt, spät am Nachmittag, war das Licht golden wie im Herbst. Sie fuhr mit dem Aufzug in den Keller und ging von dort durch einen Gang in die Tiefgarage. Immer wieder blieb sie stehen und lauschte, aber es war niemand zu hören. Ihr dunkelgrüner Mini stand da, wo er immer gestanden hatte. Sie fuhr zu einem Wald am Rand der Stadt und parkte den Wagen bei einer Recyclingstation. Vom Wald her kam ein Mann mit einem Hund auf den Parkplatz zu. Gillian duckte sich und wartete. Der Mann öffnete die Heckklappe eines Autos, das ein paar Parkplätze neben ihrem stand, und der Hund sprang hinein. Als das Auto weggefahren war und niemand sonst zu sehen, stieg sie aus und ging los. Der Spazierweg führte am Waldrand entlang. Im Inneren lagen noch letzte Reste Schnee. Nach einer Weile sah Gillian ein Paar mit Wanderstöcken auf sich
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