Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)
offenbar vorgestellt, er würde ein Porträt von ihr machen, das sie zu Hause an die Wand hängen konnte, während er überhaupt nicht an einem einzelnen Bild interessiert war. Er hatte sich vorgestellt, dass ihre Präsenz die Bilder formen würde. Er war schon nahe daran aufzugeben, als sie ihm anbot, nackt zu posieren. Es war weniger ihre Nacktheit, die ihn interessierte, als die Hoffnung, dass sie dadurch verunsichert würde. Aber es wurde nicht besser. Sie warf sich in Posen. Er hatte seinen Modellen immer die Freiheit gelassen, die Haltungen einzunehmen, in denen sie sich wohl fühlten. Gillian zwang er in eine Pose, die ihr nicht entsprach, als letzter Versuch, sie zu verunsichern. Aber auch das hatte nicht funktioniert und er hatte aufgegeben.
Kurz darauf war Lukas zur Welt gekommen. Als Hubert einmal mit ihm zum Kinderarzt ging, blätterte er im Wartezimmer durch Illustrierte und stieß darin auf einen kurzen Bericht über Gillians Unfall. Er machte mehrere Anläufe, ihr eine E-Mail zu schreiben, aber er fand nicht die richtigen Worte und gab schließlich auf. Als er Wochen später zum ersten Mal wieder im Atelier war, nahm er die Skizzen von ihr von den Wänden.
Vor der Abreise in die Berge packte Hubert seine Outdoor-Ausrüstung ein, die er seit zwanzig Jahren nicht benutzt hatte, kaufte sich neue Wanderschuhe und eine Regenjacke. Am Montag wollte er fahren. Das Wochenende zuvor war Lukas bei ihm. Sie gingen in den Zoo, und zum Abendessen machte Hubert Crêpes, Lukas’ Lieblingsessen. Am Sonntag lieferte er den Jungen früher ab als sonst. Astrid fragte, ob er Zeit für einen Kaffee habe. Während sie Wasser aufsetzte, las er die Zettel am Kühlschrank, das Kärtchen des Gynäkologen, auf dem ein Termin vermerkt war, eine Einkaufsliste, Lukas’ Stundenplan, ein Flyer für einen Tangoabend. Man muss die Stille tanzen können, las er.
Hast du wieder damit angefangen?
Astrid hatte eben Kaffeepulver in den Filter geschüttet. Ich habe Rolf dazu überredet.
Und lässt du dich von ihm führen?, fragte Hubert.
Wenn einer weiß, was er will, dann lasse ich mich auch führen, sagte Astrid.
Sie goss den Kaffee auf, füllte zwei Tassen und reichte ihm eine. Er folgte ihr ins Wohnzimmer, wo Lukas mit seinen Legosteinen spielte. Er wollte, dass Hubert ihm half, aber Astrid sagte, sie müsse etwas mit seinem Vater besprechen, und ging hinaus in den Garten. Hubert folgte ihr über den kleinen Rasen und setzte sich neben sie auf die rohe Bank unter dem Ahorn, die er vor Jahren gezimmert hatte. Die hast du immer noch?, fragte er.
Es sind überhaupt noch ziemlich viele Sachen von dir hier, sagte Astrid. Deswegen wollte ich mit dir reden. Ich wäre froh, wenn du die mal mitnehmen würdest.
Ich brauche keine Bank, sagte Hubert, ich habe keinen Garten.
Ich meine nicht die Bank, sagte sie, aber deine Militärausrüstung, deine Bücher, die Schallplatten, die Kindersachen, das Teleskop. Der ganze Dachboden ist voll mit deinen Sachen.
Hubert sagte, er habe nicht viel Platz in der Wohnung, und fragte, warum das plötzlich so eilig sei.
Was heißt denn plötzlich, sagte sie, du wohnst seit bald einem Jahr nicht mehr hier. Sie nahm einen Schluck von ihrem Kaffee und stand auf. Ich habe Rolf gefragt, ob er bei mir einziehen möchte, sagte sie im Weggehen.
Hubert holte sie bei der Garage ein. Sie öffnete das Tor. Dahinter waren seine Sachen aufgestapelt.
Du kannst sie ja abholen, wenn du zurück bist.
Hubert fuhr nach Hause, um die letzten Vorbereitungen für die Reise zu treffen. Dabei dachte er die ganze Zeit darüber nach, was er ausstellen könnte. Spät abends fuhr er ins Atelier, in der Hoffnung, seine alten Arbeiten würden ihn auf eine Idee bringen, doch sie deprimierten ihn nur. Astrid hatte ihn kürzlich gebeten, ihr die Fotos zu geben, die er in Südfrankreich von ihr gemacht hatte. Hubert schaute die Bilder durch und verstaute sie dann zusammen mit den anderen Sachen im Regal. Er hatte nicht vor, sie Astrid zurückzugeben.
Am nächsten Morgen fuhr er los. Der Himmel war bewölkt, und es regnete leicht. Hubert fuhr von der Autobahn ab und nahm eine Landstraße, die allmählich anstieg. Der Regen verwandelte sich zunehmend in Schnee, der immer dichter fiel in großen, nassen Flocken. Eigentlich hatte Hubert über den Pass fahren wollen, aber kurz vor der Abzweigung entschied er sich, das Auto auf die Bahn zu verladen. Als er zur Rampe kam, war eben ein Zug abgefahren. Er stieg aus, um sich die Beine zu
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