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Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)

Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)

Titel: Nacht ist der Tag: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Stamm
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Kurz vor dem Mittagessen hatte der Bus vor einem großen weißen Haus gehalten, und die Kinder, die schon einmal hier gewesen waren, stürmten in die Schlafräume, um sich die besten Plätze zu sichern. Als Hubert die Treppe hochging, kamen ihm die ersten schon entgegen und liefen wieder nach draußen, um die Gegend zu erkunden. Hubert hatte allein im Schlafraum gesessen und sich nicht ins Freie getraut. Tagelang hatte er noch unter Heimweh gelitten und zugleich darunter, dass er nicht so selbständig und unternehmungslustig war wie die anderen.
    Hubert klopfte an die Tür des Büros. Als er eintrat, sah er sofort das Plakat seiner ersten Ausstellung, das hinter Arno an der Wand hing, die Rückenansicht einer nackten, ziemlich plumpen Frau, die in einem Waschbecken ihren Fuß wusch, vermutlich das beste Bild der Serie. Auf dem Plakat stand der etwas unbedarfte Titel der Ausstellung, inscunters/Begegnungen , und die Daten, 6. – 28. September 2003.
    Ich habe viel zu tun, sagte Arno, zerknüllte ein Formular und warf es in den Papierkorb. Schau dich einfach um. Wenn du ein Problem hast, weißt du ja, wo ich zu finden bin.
    Hubert fragte, wann die anderen Künstler eintreffen würden. Arno schaute von seiner Arbeit auf und zuckte mit den Schultern. Eine junge Deutsche, die Schwimmbäder fotografiert, sollte demnächst kommen, sagte er, aber wann genau wisse er nicht.
    Ach, übrigens kommt um vier noch jemand von der Lokalzeitung, um ein Interview mit dir zu machen. Ich hoffe, das ist dir recht?
    Hubert ging durch das Gebäude. Die meisten Türen, die links und rechts vom Flur abgingen, gehörten zu den Zimmern, die Arno ihm bereits gezeigt hatte. In einem kleinen Raum waren die Toiletten und drei Duschkabinen untergebracht. Ganz am Ende des Flurs gab es eine Küche, in deren Mitte ein langer Holztisch stand, und darum herum ein paar Stühle, von denen keine zwei einander glichen. In den Schränken gab es eine Menge Töpfe und Pfannen, Schüsseln und anderes Geschirr. In einem offenen Regal stapelten sich angefangene Lebensmittelpackungen, Nudeln und Reis, Linsen, Kichererbsen und unzählige Fläschchen und Dosen mit den unterschiedlichsten Gewürzen. Alles war von einer matten Fettschicht überzogen, manche der Gewürze waren vor Jahren abgelaufen.
    Am Nachmittag zeichnete er einen groben Plan der Eingangshalle, die zugleich der Ausstellungsraum war, markierte darauf die Positionen der Steckdosen und maß die Raumhöhe. Er versuchte sich an seine erste Ausstellung hier zu erinnern, aber es kam ihm vor, als hätte er diesen Raum noch nie gesehen. Schließlich machte er einen Spaziergang, um sich die Umgebung anzuschauen. Er ging über die alte Brücke, die neben dem Kulturzentrum über den Inn führte. Auf der anderen Seite gab es einen kleineren Bau. Über dem Eingang stand Trinkhalle, und auf einem Zettel, der mit Klebstreifen an der Glastür befestigt war, hieß es, die Halle sei geschlossen, der Zutritt verboten. Durch die schmutzigen Scheiben sah Hubert die Spuren des ehemaligen Luxus, hohe Säulen und drei Nischen aus poliertem Stein, über denen die Namen der Quellen standen, Lucius, Bonifacius und Emerita.
    Die alte Straße schlängelte sich den bewaldeten Abhang hoch. Sie war wegen Bauarbeiten gesperrt, aber niemand war zu sehen, nur ein paar Maschinen standen herum. Hubert kletterte über die Absperrung und ging den Berg hoch. Während des Aufstiegs schaute er immer wieder auf seinem Handy nach, aber auch hier hatte er keinen Empfang. Ihm fiel ein, dass er seit dem Frühstück nichts gegessen hatte, und kehrte um. Er entschloss sich, im Hotel nebenan zu essen.
    Die Sonne draußen blendete so stark, dass Hubert einen Moment lang nichts sah, als er in die Lobby trat. Der große Raum war mit alten Sesseln vollgestellt, in der Mitte war eine Bar, aber kein Mensch war zu sehen. Nur an einem Schreibtisch hinter der Rezeption saß eine junge Frau vor einem Computer. Sie stand erst auf, als Hubert sich räusperte. Während sie zu ihm an die Theke trat, spulte sie eine Begrüßung herunter. Sie duzte Hubert und erklärte ihm, dass dies hier üblich sei, noch bevor er sein Anliegen vorbringen konnte. Das Restaurant sei erst um sechs wieder geöffnet, sagte sie, im Moment seien alle Gäste ausgeflogen. Aber er könne in der Lobby Kaffee und Kuchen bekommen. Hubert bedankte sich und setzte sich auf einen Ledersessel in eine Nische. Nach einiger Zeit kam ein als Pirat verkleideter junger Mann und nahm die Bestellung auf.

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