Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)
vertreten. Die Luft war eiskalt, es roch nach Schnee und nach Kuhmist. Er überlegte, wie vergeblich der Versuch sein müsste, diese Landschaft in einem Bild festzuhalten, den späten Schnee, die nasskalte Luft, die Berghänge, die hinter dem Schleier der Flocken zugleich sichtbar und unsichtbar waren, die Brutalität der Betonrampe und des Tunneleingangs.
Während der Fahrt durch den Tunnel machte Hubert kein Licht im Wagen. Es war kurz vor Mittag, und er hörte im Radio die Wetterprognose. Als der Zug den Tunnel verließ, lag nur oben an den Hängen etwas alter Schnee. Das Tal war grün.
Hubert konnte sich nur vage an das mächtige zweigeschossige Kulturzentrum erinnern. Es stand in einer ziemlich engen Schlucht, die der Inn in das Hochtal eingegraben hatte. Ursprünglich musste das Gebäude zum alten Kurhaus gehört haben, das gleich daneben stand. Vor dem Hotel, das zu einer Kette von Ferienclubs gehörte, war ein großes Schild, das die Gäste begrüßte. Zeit für Gefühle. Als Hubert aus dem Wagen stieg, sah er durch einige hohe Bäume hindurch eine Gruppe verkleideter Kinder, die, angeführt von einer ebenfalls kostümierten Frau, schreiend durch den Hotelpark rannten. Im kurzen Gras standen einige Liegestühle, von denen keiner besetzt war.
Hubert trat in den Laubengang, in dem sich der Eingang des Kulturzentrums befand, aber die Tür war verschlossen. Es gab keine Klingel, niemand antwortete auf sein Klopfen. In der Laube standen Festbänke und eine Tischtennisplatte, an der Wand lehnten zwei rostige Fahrräder. Hubert ging um das Gebäude herum. An der Seitenwand führten ein paar Treppenstufen hinunter zu einem schmalen, von einem Eisenzaun begrenzten Weg, der sich an der Rückseite entlangzog. Gleich hinter dem Zaun war das Flussufer. Das Wasser des Inns war gelblich grau, die Strömung kräftig.
Zwischen den verwitterten Betonplatten des Gehwegs wuchsen Gras und kleine Büsche. Ungefähr in der Mitte des Gebäudes war eine Tür, die vermutlich in den Keller führte. Auf dem Boden vor dem Tor und an der Hauswand wimmelte es von großen schwarzen Ameisen.
Als Hubert um das Kulturzentrum herumgegangen war, stand neben seinem Auto ein zweites, ein dunkelgrüner Volvo, und die Haustür war offen. Er trat in die Eingangshalle, von der links und rechts zwei Flure abgingen. Hubert folgte einem der Flure und fand an einer der letzten Türen ein handgeschriebenes Schild, auf dem Verwaltung stand. Kaum hatte er geklopft, wurde die Tür aufgerissen, und ein dicklicher Mann stand vor ihm, der ungefähr in seinem Alter sein musste. Er schloss Hubert in die Arme und klopfte ihm auf die Schultern. Hubert konnte sich nicht erinnern, den Mann jemals gesehen zu haben.
Sie gingen hinaus zu den Autos. Arno schien erstaunt zu sein, dass Hubert nur einen Koffer und eine Reisetasche dabeihatte, ein paar offene Kartons mit Diapositiven und einen Projektor.
Keine Bilder, kein Material?, fragte er.
Hubert sagte, er werde die Ausstellung hier entwickeln. Das Material, das er brauche, werde er bestimmt auftreiben können.
Auf dem Dachboden ist noch einiges von früheren Ausstellungen, sagte Arno, du kannst dich ja mal oben umschauen. Er packte einen der Kartons mit Dias und ging voraus. Du bist im Moment der einzige Künstler hier, sagte er, wir hatten den Winter über geschlossen und haben erst vor ein paar Tagen wieder aufgemacht. Dafür kannst du dir ein Zimmer aussuchen.
Nachdem Arno ihm alle Zimmer gezeigt hatte, wählte Hubert einen großen, fast leeren Raum, möglichst weit weg vom Büro. Neben einem Bett und einer kleinen Kommode aus dunklem Holz gab es einen Schreibtisch und zwei tiefe alte Sessel, aber weder einen Fernseher noch ein Telefon. Wenn Hubert Anrufe machen müsse, sagte Arno, dann könne er das gern von seinem Büro aus tun. Das Mobilfunknetz sei hier unten in der Schlucht leider sehr schwach. Hubert schaute auf sein Handy, tatsächlich hatte er keinen Empfang. Arno sagte, Hubert werde abends allein sein im Gebäude. Er holte den Karton, den er hereingetragen hatte, aus dem Flur und stellte ihn mitten im Raum auf den Boden. Dann war er plötzlich verschwunden, und Hubert musste die restlichen Sachen allein in sein Zimmer tragen. Da es keinen Schrank gab, ließ er seine Kleider im aufgeklappten Koffer liegen und packte auch sonst nichts aus. Er setzte sich aufs Bett und blieb eine Weile dort sitzen. Ihm fiel ein, wie er einmal mit lauter fremden Kindern in ein Ferienlager in die Berge gefahren war.
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