Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)

Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)

Titel: Nacht ist der Tag: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Stamm
Vom Netzwerk:
Als der Kellner den Kaffee brachte, fragte Hubert ihn nach der Verkleidung und erfuhr, dass heute Abend ein Piratendiner stattfand.
    Das steht alles in deinem Wochenprogramm, sagte der Kellner.
    Ich bin kein Hotelgast, sagte Hubert, und der Kellner lachte, als hätte er einen Witz gemacht.
    Als Hubert kurz vor vier zurück zum Kulturzentrum ging, stand vor dem Gebäude ein großer bulliger Mann, der in der Hand einen Fotoapparat mit einem riesigen Objektiv hielt. Er streckte die Hand aus und sagte, er komme von der Lokalzeitung. Er sei etwas zu früh, ob sie die Fotos gleich machen könnten. Während er fotografierte, stellte er ein paar Fragen, aus denen Hubert erriet, dass der Mann keine Ahnung hatte, wer er war oder was er hier machte. Die Antworten schienen ihn nicht zu interessieren, vermutlich wollte er nur, dass Huberts Gesicht in Bewegung blieb.
    Meine Kollegin wird gleich hier sein, sagte er, nachdem er zwei Dutzend Bilder gemacht hatte.
    Hubert setzte sich auf eine der Festbänke in der Laube, und der Fotograf setzte sich ihm gegenüber. Schweigend saßen sie da und warteten. Nach ungefähr einer Viertelstunde hielt ein winziges Auto auf dem Parkplatz und eine junge Frau mit schwarzen Haaren stieg aus. Schon während sie auf die zwei Männer zukam, entschuldigte sie sich für die Verspätung.
    Tamara, sagte sie und streckte Hubert die Hand hin. Dann umarmte sie den Fotografen. Hubert war sich nicht sicher, ob sie ihn auf den Mund geküsst hatte. Der Fotograf verabschiedete sich. Tamara packte ein kleines Aufnahmegerät aus und legte es vor sich auf den Tisch. Dann blinzelte sie Hubert zu.
    Was dürfen wir von Ihnen erwarten? Malen Sie immer noch nackte Frauen?
    Hubert zögerte.
    Tamara sagte, Arno habe ihr erzählt, er wolle die Ausstellung hier entwickeln, aber wenn er vorhabe, im Dorf nach Modellen zu suchen, könne er das gleich vergessen. Hier kenne nämlich jede jeden und es werde sich ganz bestimmt niemand für ihn ausziehen. Ihre Stimme hatte plötzlich einen aggressiven Unterton, und Hubert stellte sie sich nackt vor mit diesem Ausdruck im Gesicht. Er sagte, er wisse noch nicht genau, wie die Ausstellung aussehen werde. Tamara meinte, er habe nicht sehr viel Zeit.
    Das weiß ich auch, sagte er genervt.
    Dann besann er sich auf ihre Funktion und sagte, er wolle sich vom Ort inspirieren lassen. Der einzige Antrieb für seine Arbeit sei das Begehren, eine Art Sucht nach Wirklichkeit, nach Präsenz, auch nach Intimität im Gegensatz zur Öffentlichkeit. Im weitesten Sinne gehe es um Transzendenz. Tamara machte ein Gesicht, als nehme sie ihn nicht ernst.
    Muss ich die Frauen der Gegend nun vor Ihnen warnen oder nicht?, fragte sie.
    Er schüttelte den Kopf.
    Ich habe seit Jahren keine Akte gemalt.
    Sie stellte ihm noch ein paar Standardfragen über seine Lebensumstände, seine Arbeit an der Hochschule und seine Zukunftspläne, dann stand sie auf, und auch Hubert erhob sich.
    Bis spätestens bei der Vernissage, sagte sie, reichte ihm ihre Karte und stieg in den Wagen.

    Der Eingang des Kulturzentrums ging nach Norden und lag schon im Schatten. Die Luft war kalt. Hubert ging hinein, um eine Jacke zu holen, dann fuhr er mit dem Auto ins Dorf und sah sich um. Der Dorfkern war erstaunlich intakt, es gab viele stattliche Bürgerhäuser, die mit kunstvollen Sgraffiti geschmückt waren, an manchen standen rätoromanische Sinnsprüche, an einem war eine Sonnenuhr. Die Gegend musste schon früher wohlhabend gewesen sein, die hässlichen Hotelkästen, die man in anderen Tourismusorten fand, fehlten fast ganz.
    Nachdem Hubert eine Weile herumgegangen war, setzte er sich an einem großen Platz auf eine Bank und beobachtete die Menschen, die vorübergingen. Er dachte über die Ausstellung nach. Das Dorf war schön, die Landschaft war schön, sogar das Wetter war schön. Auch er war in einem Dorf aufgewachsen, was gab es darüber zu sagen? Er hätte wissen müssen, dass ihm hier ebenso wenig einfallen würde wie zu Hause.
    Die Schatten waren länger geworden, und als sie die Bank erfassten, auf der Hubert saß, wurde ihm kalt. Er ging in das nächste Restaurant, bestellte einen Tee und las seine E-Mails. Astrid hatte geschrieben, Nina und zwei andere Studenten. Von der Hochschule kam die Einladung zu einer Sitzung und das Protokoll einer anderen. Sein Galerist fragte, wie es ihm gehe in den Bergen, und schrieb, er freue sich auf die Vernissage. Er bat Hubert, ihm ein Zimmer zu buchen.
    Hubert beantwortete die Mails

Weitere Kostenlose Bücher