Nacht-Mähre
niemals verraten, Tagpferd!« rief sie im Traum schockiert. »Du hast mich doch befreit! Ich werde dir dafür immer dankbar sein!«
»Leb wohl«, sagte sein Traumbild. Er drehte sich um und schritt gen Norden davon, während der kleine Traum verblaßte. Imbri sah, wie der Messingreif an seinem Vorderbein matt im Mondlicht glitzerte.
»Am Baobab-Baum!« schickte Imbri ihm nach. Sie kannte den Baum von ihrem Traumdienst her; manchmal lagerten Menschen dort draußen, und nachts war er sehr förderlich für Alpträume, ein bißchen wie ein Spukhaus. Er befand sich am Rande des Grundstücks von Schloß Roogna, außer Sichtweite des Schlosses, aber unmöglich zu übersehen. Sie würde mit Sicherheit dort sein, wenn es ihr möglich war.
3
Zentikora et cetera
Gegen Mitternacht kam Imbri am Schloß Roogna an. Sie schlug einen kleinen Bogen und begab sich zu Chamäleons Haus, einem großen Hüttenkäse. Imbri hatte einmal Chamäleons Mann, Bink, einen Traum geliefert. Es war nur ein unwichtiger Traum gewesen, denn er hatte nicht viel Schlimmes auf dem Gewissen gehabt, aber immerhin kannte sie sich dadurch ein wenig im Gelände aus, auch ohne daß sie lange genug im Geschäft gewesen wäre, um auch die Könige mit Träumen beliefern zu dürfen. Sie entmaterialisierte sich durch die harte Rinde und stieß zu Chamäleons Bett vor.
Doch in dem Bett lag eine Fremde. Dem Bild zufolge, welches der Nachthengst ihr gezeigt hatte, war Chamäleon eine alte Vettel; doch diese Person hier war eine wunderschöne ältere Frau von etwa fünfzig Jahren. Hatte sie sich in der Adresse geirrt?
»Wo ist Chamäleon?« fragte Imbri in einem bilderlosen Träumchen. Vielleicht war diese Frau ja hier zu Besuch und konnte es ihr sagen.
»Ich bin Chamäleon«, erwiderte die Frau im Traum.
Imbri wich einen Schritt zurück und überlegte. Die Antwort war spontan und ehrlich gekommen. Der Nachthengst mußte sich geirrt haben, indem er ihr nämlich versehentlich das Bild einer anderen Frau gezeigt hatte. Imbri hatte zwar noch nie davon gehört, daß er einen solchen Fehler begangen hätte, aber anscheinend lag es dennoch im Rahmen des Möglichen.
Und noch etwas störte sie. Chamäleon schlief allein, obwohl sie eine Familie hatte. Wo waren ihr Mann und ihr Sohn?
Imbri projizierte einen Traum. Er zeigte sie selbst als Zentaurenstute, die neben dem Bett stand. »Chamäleon, ich muß dir eine Nachricht überbringen.«
Die Frau blickte auf. »Ach, soll ich wieder einen schlimmen Traum haben? Warum kommen die eigentlich immer nur, wenn meine Familie nicht da ist?«
»Nein, kein Alptraum«, versicherte Imbri ihr. »Ich bin die Nachtmähre Imbri und bin gekommen, um dir als Reittier zu dienen und um dem König eine Nachricht zu übermitteln. Wenn du aufgewacht bist, bleibe ich bei dir. Ich werde entweder im Schlaf mit dir reden, wie jetzt, oder aber in kleinen kurzen Tagträumen.«
»Keine Alpträume?« Die Frau schien lange zu brauchen, um zu verstehen, was Imbri gesagt hatte.
»Keine Alpträume«, wiederholte Imbri. »Aber eine Nachricht für den König.«
»Der König ist nicht hier. Den mußt du auf Schloß Roogna aufsuchen.«
»Ich weiß. Aber ich kann ihm nicht persönlich meine Aufwartung machen. Ich gebe dir die Nachricht, damit du sie ihm überbringen kannst.«
»Ich? Einen Traum überbringen?«
»Eine Nachricht.«
Langsam wurde Imbri ungeduldig. Diese Frau schien keine große Leuchte zu sein.
»Was für eine Nachricht?«
»Vorsicht vor dem Reitersmann.«
»Vor wem?«
»Vor dem Reitersmann.«
»Was für ein Reitersmann?«
»Ein Mann, der auf Pferden reitet.«
»Aber in Xanth gibt es doch überhaupt keine Pferde!«
»Inzwischen gibt es eins, das Tagpferd. Und es gibt auch Nachtmähren, mich zum Beispiel.«
»Aber dann brauchen die Menschen sich doch nicht vor ihm zu fürchten. Höchstens die Pferde sollten Angst vor ihm haben.« Das konnte stimmen; mit Sicherheit würde Imbri dem Reitersmann nur noch mit allergrößter Vorsicht begegnen. Aber das spielte jetzt keine Rolle. Sie mußte ihre Nachricht endlich überbringen. »Das muß der König entscheiden. Du mußt ihm die Nachricht bringen.«
»Welche Nachricht?«
»Vorsicht vor dem Reitersmann!« schrie Imbri frustriert.
Chamäleons Bild blickte sich nervös um. »Wo ist er denn?«
Was war hier nur los? War diese Frau etwa eine Vollidiotin? Warum hatte der Nachthengst Imbri zu einem solchen Wesen geschickt? »Der Reitersmann befindet sich westlich von hier. Er gefährdet
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