Nacht-Mähre
bereits in Reichweite von Schloß Roogna und spioniert die Verteidigungsanlagen Xanths aus. Außerdem sieht es so aus, als wäre Prinz Dor zu beschäftigt, um sich darum zu kümmern. Du mußt morgen früh sofort als erstes den König aufsuchen.«
»O nein, ich kann doch den König nicht belästigen! Er ist immerhin schon…«
»… siebzig Jahre alt, ja, ja. Trotzdem muß er davon erfahren. Der Reitersmann ist nämlich gefährlich!«
Mit kindlichem Ernst blickte Traum-Chamäleon die Traum-Nachtmähre an.
»Warum sagst du es ihm dann nicht?«
»Das kann ich nicht. Meine Mission hier muß geheim bleiben.« Doch da stutzte sie plötzlich. Geheim? Vor wem denn? Der Reitersmann wußte doch bereits alles!
»Ich sag’s ihm sofort!« meinte Imbri und verwünschte ihre eigene Dummheit.
»Aber es ist mitten in der Nacht! Der König schläft bestimmt gerade!«
»Um so besser. Ich bin schließlich eine Nachtmähre!«
»Oh. Na ja, dann ist das wohl in Ordnung. Aber gib ihm keine Alpträume – er ist ein guter Mann.«
»Keine Angst.« Imbri trabte durch die Rindenwand des Hüttenkäses und ließ Chamäleon in einen friedlichen Schlummer sinken. Mit einem waghalsigen Sprung überwand sie den Schloßgraben und glitt durch die massive Außenmauer. Dieses Schloß würde keiner so leicht im Sturmangriff nehmen! Sie trabte durch die düsteren Gänge und Hallen, bis sie schließlich an den königlichen Schlafgemächern angekommen war.
König und Königin besaßen getrennte Suiten und schliefen fest. Imbri betrat das Gemach des Königs und neigte sich über ihn, als wäre sie im Traumdienst.
Selbst mit siebzig Jahren, was für einen Sterblichen schon ein recht stattliches Alter war, wirkte er noch edel. Die Falten in seinem Gesicht ließen ihn nicht nur alt, sondern auch weise erscheinen. Und doch war es nicht zu übersehen, daß er ein Sterblicher war; sie entdeckte Gebrechen, die nach und nach seinen natürlichen Tod herbeiführen würden. Er hatte über fünfundzwanzig Jahre regiert; vielleicht war das ja genug. Wenn Prinz Dor allerdings kein fähiger Nachfolger für ihn sein sollte…
In ihrer Traumgestalt drang sie in seinen Geist ein; diesmal verlieh sie sich selbst das Aussehen einer barbusigen, unschuldig dreinblickenden Nymphe, um ihm auf symbolische Weise damit zu zeigen, daß sie nichts vor ihm verbergen wollte.
»König Trent!« rief sie.
Er hatte davon geträumt, daß er schlief; nun träumte er, daß er aufwachte. »Was tust du in meinem Schlafzimmer, Nymphe?« fragte er. »Bist du eine Spielgefährtin meiner Tochter? Sprich, oder ich verwandle dich in eine Blume!«
Verblüfft wußte Imbri nichts zu antworten – da war sie plötzlich im Traum zu einer Tigerlilie geworden. Sie knurrte und bleckte grimassierend ihre Blätter.
»Also gut, ich geb’ dir noch einmal eine Chance.« König Trent bewegte sich nicht, doch plötzlich hatte Imbri wieder ihre Nymphengestalt. Selbst im Traum war die Magie des Königs noch beachtlich!
»Ich bringe Euch eine Botschaft«, sagte sie hastig durch den Mund der Nymphe. »Vorsicht vor dem Reitersmann.«
»Und wer ist der Reitersmann?«
»Ein Mann, der auf Pferden reitet. Er ist auch auf mir geritten…« Sie hielt inne, als ihr einfiel, daß dies schlecht zu ihrer Nymphengestalt paßte.
»Ich bin eine Nachtmähre…«
»Ach so, dann ist das doch ein Traum! Ich dachte, es sei alles Wirklichkeit. Verzeihung!«
Imbri war peinlich davon berührt, daß ein König sich vor einer Traumgestalt entschuldigte. »Aber es ist doch Wirklichkeit! Der Traum dient doch nur zur Übermittlung…«
»Ach ja? Dann wache ich wohl mal besser auf.«
Der König gab sich einen Ruck und erwachte. Imbri war erstaunt. Das hatte sie in ihrem hundertfünfzigjährigen Dienst noch nie erlebt, daß jemand das so schnell bewerkstelligen konnte.
»Du bist also tatsächlich eine Mähre«, sagte König Trent und musterte sie in der Realität. »Keine Nymphe, die man mir geschickt hat, um mich zu närrischen Gedanken zu verleiten.«
»Ja, keine Nymphe«, stimmte sie ihm zu und projizierte ihm ein Träumchen.
»Und du löst dich auch nicht auf, obwohl ich wach bin. Interessant.«
»Ich unterliege einem Zauber, der mir aufträgt, meine Pflicht zu erfüllen«, erklärte sie. »Um meine Botschaft zu übermitteln.«
»Welche ›Vorsicht vor dem Reitersmann‹ lautet.« Der König strich sich mit den Fingern durch seinen Bart. »Ich glaube, ich kenne ihn nicht. Ist er vielleicht ein neuer
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