Nacht-Mähre
Fliegen fortwedelte. Sie hatte eine Menge Zeit, um über ihr törichtes Verhalten nachzudenken. Doch sie wußte auch, daß sie in der Nacht wieder frei sein würde, und das erheiterte ihren Geist, ihre Halbseele.
Nun meditierte sie darüber: Nur wenige ihrer Rasse besaßen überhaupt irgendwelche Seelenanteile, und die meisten von ihnen lieferten sie in der Regel ab, wie der Nachthengst ihr ja wieder in Erinnerung gerufen hatte. Und doch hing sie an ihrer Seele wie an etwas außerordentlich Wichtigem. War das närrisch von ihr? Imbri hatte den halbmenschlichen Oger Krach aus dem Kürbis und der Zone des Nichts getragen, doch ihre Seelenhälfte stammte nicht von ihm, sondern von einer Zentaurenstute. Diese Seele hatte ihr Weltbild verändert, hatte sie klüger gemacht und für die Bedürfnisse anderer empfindsamer werden lassen. Das war schlecht für ihr Geschäft gewesen und hatte sie schließlich sogar ihre Stellung gekostet. Doch nachdem sie nach und nach die Eigenschaften der Seele gemeistert hatte, war sie immer zufriedener mit ihr geworden. Nun wußte sie, daß es im Leben noch mehr gab als gutes Futter, guten Schlaf und einen Beruf, dem man nachging. Sie wußte zwar nicht so genau, was dieses ›Mehr‹ sein konnte, aber es lohnte sich allemal, danach zu suchen. Vielleicht würde der Regenbogen ja die Antwort darauf wissen. Andererseits hatte gerade die Suche nach dem Regenbogen sie in diese mißliche Lage geführt.
Als der Abend nahte, kamen der Reiter und die Knechte zu ihr und zerrten Feuerholz aus dem nahen Wald herbei. Das Holz glühte regelrecht vor Brandlust. Sie warfen eine Flammenliane auf den Haufen, und sofort loderte es los und tauchte die undeutlichen Schatten in taghelles Licht.
Plötzlich begriff Imbri, was sie vorhatten: Die Mundanier wollten das Gehege so stark ausleuchten, daß sie ihre nächtlichen Kräfte nicht ausnutzen konnte! Solange das Feuer brannte, konnte sie nicht fliehen!
Verzweifelt mußte sie mit ansehen, wie sie weitere Scheite und Stämme herbeischleppten. Sie hatten genügend Holz dabei, um das Feuer die ganze Nacht speisen zu können!
Die Sonne wurde müde und sank schließlich hinter dem Horizont zur Ruhe, während Imbri finster das immer heller lodernde Feuer im Gehege musterte, das ihre kostbare Dunkelheit auffraß. Es spie Funken in den Himmel empor, die den Sternen Konkurrenz machten. Vielleicht waren sie sogar selbst Sterne, denn diese kleinen Lichtflecken am Himmelszelt mußten ja irgendwoher kommen und regelmäßig erneuert werden. Die Mundanier wechselten sich darin ab, Imbri zu bewachen und das Feuer zu speisen.
Ach, wenn doch nur ein hübscher, kräftiger Sturm vorbeikäme, um es zu ersticken! Doch der Himmel blieb schrecklich klar.
Langsam nickte der wachhabende Knecht ein. Er schlief im Dienst, und sie würde ihn bestimmt nicht wecken – aber das machte ohnehin keinen Unterschied, denn das Feuer war hell genug, um sie gefangenzuhalten, ob er nun schlief oder nicht. Sie könnte ihm zwar einen Alptraum schicken, aber der würde ihn nur ängstigen und wieder wach werden lassen. Nein, sie mußte sich zunächst einmal um dieses Feuer kümmern. Aber wie, da sie doch gefesselt war?
Da erkannte sie, wie sie es anfangen mußte. Sie schritt auf das Feuer zu und hob die Vorderhufe in dem Versuch, die Fesseln zu entzünden. Doch die Flammen waren zu heiß – sie konnte nicht nahe genug an das Feuer heran, ohne sich auch selbst dabei zu versengen.
Da erschien plötzlich eine Gestalt: irgendein großes Tier, das außerhalb der Reichweite des Lichts vor dem Gehege aufstampfte. War das etwa ein Drache, der gekommen war, um sich über ein hilfloses Pferd herzumachen, das sich nur noch hinkend davonbewegen konnte?
Sie schickte einen kleinen Probetraum voraus.
»Wer bist du?«
»Sein Luft rein?« erwiderte ein pferdischer Gedanke ihren Traum.
Das war ja das Tagpferd! Imbri unterdrückte ihre Überraschung und ihre Freude und projizierte ein weiteres Träumchen. »Halt Abstand, Hengst! Der Reiter sucht nach dir!«
»Ich – wissen«, erwiderte das Pferd langsam. Sie war sich nicht sicher, ob es Dummheit oder Vorsicht war, die den Hengst weniger als klug erscheinen ließ. Soviel sie wußte, waren mundanische Tiere alles andere als Intelligenzbestien, und der Reitersmann hatte Ähnliches gesagt.
»Er will dich einfangen und wieder reiten«, erklärte sie, indem sie das Traumbild eines Zentauren projizierte, was etwas pferdischer war und ihr gleichzeitig ermöglichte,
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