Nacht-Mähre
nichts Böses sagen.
»… der ein schlimmes Bürschchen ist?« ergänzte Imbri hilfsbereit.
»Ja, das ist er wohl. Aber die anderen sind lieb.«
»Felsgeister aber nicht. Die lassen sich mit netten Gespenstern ungefähr so gut vergleichen wie Oger mit Elfen.«
»Das ist ja schauderhaft!«
Imbri überlegte. Die Situation gefiel ihr ebensowenig wie Chamäleon. Aber es mußte doch irgendeinen Ausweg geben! Den gab es schließlich immer, das gehörte zu den Verteidigungsanlagen des Guten Magiers. Er liebte keine Belästigungen durch neugierige Eindringlinge, und aus diesem Grund hatte er entsprechende Hindernisse aufgebaut. Nur gewitzte, entschlossene Bittsteller mit einer gewissen Portion Glück konnten bis zu ihm vordringen. Imbri wußte, daß König Trent sie beide nicht hierhergeschickt hätte, wenn die Angelegenheit unwichtig gewesen wäre, also mußten sie diesen Herausforderungen auch begegnen und sie meistern. Schade, daß der Rauch sich inzwischen aufgelöst hatte und sie sich nicht mehr entmaterialisieren konnte, um durch feststoffliche Hindernisse zu schlüpfen. Das hätte die Sache sehr erleichtert. Doch die Schatten wurden bereits länger, und schon bald würde die Abenddämmerung einsetzen, und ihre Probleme waren gelöst. Bis dahin mußte sie lediglich dafür Sorge tragen, daß sie nicht von den Felsen zermalmt wurden. Es wäre wirklich klüger gewesen, von Anfang an bis zum Nachtanbruch zu warten, doch nun befand sie sich bereits im Inneren des Schlosses und wollte die Sache mit mährenhafter Sturheit durchstehen.
Sie dachte an die Felsgeister. Ganz entfernt waren sie mit den Nachtmähren verwandt, weil sie nämlich sowohl stofflich als auch unstofflich waren. In ihrer natürlichen Gestalt waren sie unsichtbar, aber ihre Münder konnten feste Gestalt annehmen, um Stöhnlaute von sich zu geben, während ihre Hände fest genug wurden, um Steine hin und her zu schieben. Doch berührten sie lebende Wesen niemals direkt; die Berührung mit warmem Fleisch verwirrte sie gehörig, und sie brauchten danach immer eine sehr lange Zeit, bis sie sich wieder entwirrt hatten.
Das konnte die Lösung sein! Imbri mußte die Riesen lediglich dazu bringen, sich zu zeigen, um dann auf sie zuzugehen. Vielleicht…
»Ich werde jetzt etwas ziemlich Riskantes versuchen«, projizierte Imbri zu Chamäleon. Ihr kleiner Traum zeigte sie, wie sie ein riesiges Gespenst angriff. »Soll ich dich draußen vor den Megalithsäulen absetzen, dort, wo es sicher ist?«
Chamäleon war zwar verängstigt, aber auch entschlossen. »Dort ist es auch nicht sicherer, da lauert die Zentikora. Möglicherweise hat sie sich inzwischen wieder befreit. Nein, ich bleibe bei dir.«
»Gut. Wir müssen die Riesengeister dazu kriegen, sich zu zeigen. Wenn sie das getan haben, mußt du so tun, als seist du fürchterlich entsetzt.«
Trotz ihrer Naivität erkannte die Frau das Komische dieser Situation. »Das werde ich.«
Imbri atmete tief durch, um Mut zu schöpfen, dann trat sie vor. Sofort erscholl ein warnendes Stöhnen. Sie projizierte einen Traum in seine unmittelbare Umgebung. »Du bist mir vielleicht mutig, dich hinter großen Felsen zu verstecken«, sagte ihr Traumbild voller Verachtung. »Wenn man dich sehen könnte, würdest du nicht einmal einer Maus einen Schrecken einjagen.«
»Ach ja?« fragte der Felsgeist, den sie angesprochen hatte. »Dann schau doch mal her, Mähre!«
Der Geist nahm vor ihr Gestalt an. Er war so groß wie ein Mann, aber seine Arme waren groß und behaart, und sein Gesicht wurde von zwei nach oben gebogenen Stoßzähnen beherrscht. »Stööööööhhhhhnnnnn!« stöhnte er.
Chamäleon kreischte voller – vermutlich gespieltem – Entsetzen auf. Doch Imbri lief direkt auf den Geist zu.
Erschrocken schrumpfte der Felsgeist zur Größe eines Zwergs. Doch dann hatte er sich wieder gefangen und nahm erneut die Gestalt eines Riesen an. »Buuuuuhhhhh!« buuuuuhhhhhte er und zerrte an einer steinernen Deckenplatte. Der Stein bewegte sich und ließ warnend einen Sandschauer auf sie herabrieseln. Chamäleon stieß erneut einen Schrei aus. Anscheinend mochte sie keinen Sand im Haar.
Doch als die Mähre immer näher kam, sprang der Felsgeist beiseite, um nicht von ihr berührt zu werden. Sie sprangen an ihm vorbei durch das Gestein, und Imbri erkannte, daß sie und Chamäleon nun schon tief ins Schloßinnere vorgedrungen waren.
Wieder stieß einer der Felsgeister ein unsichtbares Stöhnen aus. Imbri galoppierte darauf zu,
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