Nacht-Mähre
wußten, was sie sonst tun sollten.
Das Schlafgemach des Königs war zu einer gewaltigen düsteren Höhle geworden, von deren Kuppeldecke steinige Stalagtiten herabhingen, während finstere Schatten die Wände einhüllten. Im Hintergrund war gedämpftes Trauergeheul zu hören. Der gestürzte König Trent war in eine Aura phänomenaler Großartigkeit gehüllt, während Königin Iris die übelsten Lumpen trug. Das ganze Bild war natürlich eine Illusion, ein Werk der Königin, aber das Gefühl dahinter war echt.
»Ich wollte nur sagen, Euer Majestät, daß wir den König vermissen und daß wir unser Bestes tun werden, um ihm zu helfen«, sagte Chamäleon.
Königin Iris hob den Blick und sah, wie schön Chamäleon war; sie wußte natürlich, was das bedeutete. »Danke, Chamäleon«, sagte sie und sprach langsam und deutlich, damit die Frau sie auch verstand. »Ich bin sicher, daß dein Sohn einen guten König abgeben wird.«
»Ich werde jetzt zusammen mit der Mähre Imbri und Grundy und vielleicht auch Ichabod losziehen, um die Mundanier auszuspionieren.«
»Ich bin sicher, daß ihr gut spionieren werdet.« Die Königin senkte wieder den Blick. Ihre Höflichkeit war fast erschöpft.
»Auf Wiedersehen, Euer Majestät«, sagte Chamäleon.
Die Königin nickte. Dann verließen die Besucher die finstere Höhle.
Sie beschafften sich Vorräte, studierten die Karten, suchten sich eine vielversprechende Tagstrecke aus und machten sich auf den Weg. Imbri galoppierte ihnen voran, denn es war schon bald Mittag, und sie wollte das Tagpferd nicht verpassen. Sie nahm Grundy mit, der mit allen Lebewesen reden konnte und doch nicht mit einem Menschen zu verwechseln war. Ichabod und Chamäleon kamen zu Fuß nach.
Der Baobab war ein monströser Baum, der hoch über den Dschungel ragte, so daß sein Wipfel schon von weitem deutlich zu erkennen war. Am seltsamsten war an dem Baum, daß er verkehrt herum wuchs. Sein Blattwerk bedeckte den Boden, während seine zottigen Wurzeln in die Luft emporragten. Um ihn herum wuchs nichts, weil der Baobab keine Einengung mochte und andere Pflanzen mit Hilfe von Abwehrzaubern fernhielt.
Imbri steckte die Nase ins Blattwerk. War das Tagpferd hier? Der Hengst hatte nicht gesagt, an welchem Tag er kommen wollte; vielleicht befand er sich heute auch woanders.
Der Golem gab einen windigen, wispernden Laut von sich. Der Baum erwiderte ihn, und Grundy meldete: »Bao meint, das Pferd wartet drinnen.«
Imbri stieß sich mit der Schnauze den Weg zu dem gewaltigen knolligen Stamm frei. Der wies einen Riß auf, durch den ein Pferd bequem hindurchschlüpfen konnte. Vorsichtig trat sie hindurch.
Das Innere des Baumes glich einer Kathedrale. Hoch ragte die Kuppel empor, während hölzerne Wände einen gewürfelten Parkettboden einfaßten. Von innen betrachtet, sah der Baum so aus, als stünde er richtig herum. Doch das war vielleicht nur eine Illusion.
Da stand auch der prächtige, weiß schimmernde Hengst. Seine Mähne und sein Schweif waren von seidigem Silber, und seine Hufe leuchteten. Es war fast der schönste Anblick, dem sie je begegnet war.
»Na, so etwas nenne ich ein richtiges Pferd!« murmelte Grundy bewundernd. »Kein Fischschwanz, kein Einhorn-Horn, keine Schattenfärbung, keine Alpträume. Die Mundanier mögen ja nicht zu sonderlich viel nütze sein, aber von Pferdezucht verstehen sie was!«
Imbri konnte ihm nur beipflichten, trotz seiner abwertenden Bemerkungen über sie selbst.
Das Tagpferd wieherte kurz. »Er sagt, du sollst vortreten, damit er dich im Licht sehen kann, schwarze Mähre«, dolmetschte Grundy überflüssigerweise. Natürlich verstand Imbri Pferdisch! Sie trat vor. Zuvor hatte sie den Hengst nur flüchtig bei Tag gesehen, und nun zitterte sie wie ein junges Fohlen. Seine schiere Männlichkeit hatte eine kaum zu überschätzende Wirkung auf sie.
»Du bist schön wie die Nacht«, wieherte das Tagpferd.
»Du bist so stolz und prächtig wie der Tag«, erwiderte Imbri wiehernd. Ach, welch eine Freude, mit einem solchen Hengst zu tun zu haben!
»Es fällt mir ja unendlich schwer, dieses bewegende Gespräch unterbrechen zu müssen«, warf Grundy nicht ohne Schadenfreude ein, »aber du hast noch Geschäfte zu erledigen.«
Imbri seufzte. Der vermaledeite Golem hatte recht. Schnell projizierte sie einen Erklärungstraum, der dem Hengst zeigte, was sie von ihm wollte.
Er dachte nach. »Ich mag es nicht, mich wieder Mundaniern nähern zu sollen«, sagte er im Traum. »Sie
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