Nacht-Mähre
bevor sie zuviel von ihrem Charme eingebüßt hatte, was ja nur natürlich gewesen wäre. Eine Menschenfrau ohne Charme war das bedauernswerteste aller Geschöpfe.
Die Frau saß auf, und sie verließen gemeinsam das Schloß. Dort wurden sie von dem Hengst empfangen. Obwohl es immer dunkler wurde, leuchtete sein Fell noch immer strahlend weiß.
»Ach, ich freue mich ja so, dich wiederzusehen, Tagpferd!« rief Chamäleon in mädchenhafter Freude.
Das Pferd hob erschrocken den Kopf und schnaubte.
Imbri begriff, was los war. »Das hier ist Chamäleon«, sendete sie ihm. »Sie verwandelt sich von Tag zu Tag, wird immer weniger schön, aber dafür auch immer intelligenter. Du hast sie vor mehreren Tagen zum letzten Mal gesehen, als sie in ihrer schönsten Phase war – aber es ist immer noch ein und dieselbe Frau.«
»Natürlich bin ich noch immer dieselbe«, warf Chamäleon ein. »Wir beide sind zusammen im Wald geblieben, als Imbri, Grundy und Ichabod den Nächstwellern und Varsoboes und dem Reitersmann begegnet sind. Wir hatten viel Spaß zusammen.«
Die Miene des Tagpferds entspannte sich, und es spitzte die Ohren wieder, um sie nach vorn zu stellen. Chamäleon streichelte die Nase des Hengstes, was ihn schließlich überzeugte. Er wieherte leise.
»Aber ich bin auf meine Weise auch wieder anders als früher«, gab Chamäleon zu. »Nicht mehr so hübsch – und ich werde mit der Zeit immer weniger hübsch werden, bis du mich nicht mehr ansehen magst. Und wenn ich intelligent bin, habe ich auch eine ziemlich spitze Zunge, so daß mich dann niemand ausstehen kann.«
Das Tagpferd schnaubte. Er würde schon nicht so heikel sein, dachte der Hengst.
»Weißt du«, sagte Chamäleon, »das Schlimmste, was einer Frau passieren kann, ist, schlau und intelligent zu sein. Gib mir noch eine Woche Zeit, vielleicht auch etwas weniger. Wenn du mich dann noch ausstehen kannst, will ich gerne wieder auf dir reiten.«
Sie trabten zum nächsten Kürbisfeld. Chamäleon wurde nervös. »Werden wir etwa auch an dem Ort…«
»Wir kommen nicht an der Stelle vorbei, an der dein Sohn vom Zauber erfaßt wurde«, beruhigte Imbri sie in einem sanften Traum, der jedoch das Grauen nicht ganz verbergen konnte. Chamäleon hielt sich recht gut; vielleicht hatte Millie das Gespenst ja mit ihr geredet und ihr die Angelegenheit in der richtigen Perspektive gezeigt. Immerhin hatte Millie eine achthundertjährige Perspektive aufzuweisen! Doch je intelligenter Chamäleon wurde, um so stärker würde der Verlust Dors sie bekümmern.
Wie um sich von ihrer Trauer abzulenken, begann Chamäleon eine unschuldige Unterhaltung mit dem Tagpferd. »Als ich noch jung war, da lebte ich in einem Dorf am Nordrand der Spaltenschlucht, und ich trug in jeder Phase meines Zyklus einen anderen Namen. Wenn ich schön war, hieß ich Wynn, im Normalstadium war ich Dee, und Fanchon hieß ich in meiner häßlichen Zeit. Die Dorfbewohner wußten um mich und behandelten mich auch wie drei verschiedene Personen, was die Sache viel leichter machte. Aber obwohl alle Wynn mochten – vor allem die jungen Männer! –, mochte nur etwa die Hälfte der Leute Dee, und Fanchon konnte niemand leiden. Da jeder, der mich heiratete, gleich alle drei mitbekommen hätte, war ich eigentlich dazu verurteilt, als alte Jungfer zu sterben. Da lernte ich Bink kennen, der ein sehr netter Mann war, obwohl er keine Magie besaß, und ich dachte, falls ich ihm meine wahre Natur verheimlichen könnte, könnte ich… Das war töricht, weil ich nämlich gerade dumm war. Wynn war die erste, der er begegnete. Ich dachte also, daß ich vielleicht einen Zauber bekommen könnte, der mich die ganze Zeit über normal sein ließ. Der Gute Magier Humfrey sagte mir, daß dies kein Zauber vollbringen würde, daß ich aber einfach nur nach Mundania zu gehen brauchte; dort würde meine Magie sich verflüchtigen, und ich würde die ganze Zeit Dee sein. Also versuchte ich es, aber irgendwie kam alles ganz anders, und schließlich mochte Bink mich auch so, wie ich war, so daß er mir das Schicksal einer alten Jungfer erspart hat.« Sie lachte. »Chamäleon brauchte gar keinen Zauber! Nur den richtigen Mann!«
Und wenn sie Bink verlieren sollte, dachte Imbri, würde sie ganz ganz schlimm dastehen.
Sie kamen am Kürbisfeld an. »Jetzt geh mit mir im Gleichschritt und halte Körperkontakt«, sendete Imbri dem Tagpferd. »Laß dich durch nichts ablenken, was du im Kürbis erblicken solltest. Wenn du den Kontakt mit
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