Nacht ohne Angst: Kriminalroman (German Edition)
Blick in die besagte Personalakte werfen können.
Tessa mochte es kaum glauben, aber alle ihre wilden Phantasien wurden plötzlich Wirklichkeit. Paul bestätigte, dass Neumann bis heute seine Abschlusszeugnisse nicht im Original vorgelegt hatte.
»Er hat nur Kopien abgegeben. Auch nicht schlecht, aber die Personalabteilung hat ihn mehrfach aufgefordert, die Originale vorzulegen«, berichtete er.
»Lass mich raten, das hat er nie getan«, sagte Tessa.
»Treffer, versenkt. Schlamperei oder Strategie? Das ist noch offen. Kannst du klären, ob er bei der Ärztekammer die Approbationsurkunde vorgelegt hat?«, fragte Paul.
Natürlich, das war eine der leichteren Aufgaben, die Tessa derzeit zu bewältigen hatte. Sie legte auf und atmete tief durch. Sie drehte sich mit ihrem Stuhl zum Fenster und blickte in den wolkenverhangenen Himmel. Sie musste die Tatsachen zur Kenntnis nehmen: Alles deutete darauf hin, dass Neumann ein Hochstapler war. Und ein Mörder. Denn Henke hätte ihn auffliegen lassen können, dann wäre sein Kartenhaus eingestürzt. Doch das war es jetzt auch. Also doch kein so gutes Motiv? Und wenn es nicht Neumann gewesen war, wer dann?
Morgen würden die Ergebnisse der Speichelproben vorliegen und der Spuk hoffentlich ein Ende haben! Tessa war müde. Sie nahm sich eine Muschel von der Fensterbank. Die Muschel von Kurt Mager. Er hatte sie ihr geschenkt. Sie hatte sie nicht selbst gesammelt. Daher gehörte sie eigentlich gar nicht auf ihre Fensterbank. Sie hätte sie nicht annehmen dürfen. Plötzlich mochte sie die Muschel nicht mehr in der Hand haben. Sie warf sie in den Papierkorb.
Die Gedanken wirbelten durch ihren Kopf. Ihr fiel gerade etwas ein, was Mager gerufen hatte, als er mit Brömme im Clinch lag: … dass alle »die Sau rauslassen würden«. Was hatte er damit gemeint? Wollte er andeuten, dass sie aggressiv geworden wären von dem Medikament? Tessa überlegte weiter. Sollte das Medikament aggressiv machen, hätten auch die Frauen darauf reagieren müssen. Nicht nur Brömme und Mager. Isabell Drost hatte sich das Leben genommen, auch ein Akt der Aggression – gegen sich selbst. Aber Gabriele Henke nun wirklich nicht. Sie war nicht auffällig gewesen. Oder doch? Immerhin hatte sie Neumann erpresst. Nicht gerade sanftmütig. Tessa kam eine Idee. Sie griff zum Telefon.
»Hey, ich bin’s. Ich wollte dich fragen, ob du noch etwas herausgefunden hast?«
»Immer mit der Tür ins Haus! Wie läuft es denn bei euch? Gibt es Neuigkeiten?«, fragte Sascha.
»Ich kann jetzt nicht darüber reden, Sascha. Hier geht es drunter und drüber. Morgen sollen die DNA -Auswertungen vorliegen, und dann wissen wir mehr.«
»Hmm. Du klingst nicht gut. Fahr mal in den Urlaub, wenn alles vorbei ist. Okay, ich will dich nicht auch noch quälen. Ich bin immer noch nicht ganz durch, aber ich weiß inzwischen, dass Neumann die Daten von Patienten manipuliert hat, die die Studie nicht zu Ende geführt haben. Ich kann nicht sagen, ob das überhaupt etwas mit dem Wirkstoff zu tun hat, aber er unterschlägt die Daten. Als ob sie ihm nicht in den Kram passten.«
Weitere Bestätigungen für Neumanns groß angelegten Betrug. Tessa schwieg in der Hoffnung, dass Sascha weiterreden würde. Was er auch tat.
»Und dann sind da noch die Persönlichkeitsfragebögen. Ich formuliere es mal ganz vorsichtig. Ich habe eine vage Idee, dass das Duoxepin wie ein Verstärker wirkt. Stell es dir so vor: Deine ureigensten Persönlichkeitseigenschaften werden verstärkt und deine Kontrolle verringert. Also Ärger wird zu Wut, Ordnungsliebe zum Zwang, Extraversion zur Hysterie. Verstehst du?«
Tessa verstand. Sie spielte kurz mit dem Gedanken, jetzt einfach aufzulegen und sich einzureden, dass es sie alles nichts anginge, aber sie musste es wissen. »Wie sieht es mit Impulsivität aus?«
»Denk dran, im Moment sind das alles Spekulationen. Aber ja, auch eine unkontrollierte Impulsivität könnte die Folge sein.«
Dann herrschte Stille zwischen den beiden. Die Brisanz der Überlegungen war nahezu greifbar. In Tessa wuchs ein Gedanke. Hatte Kurt Mager nicht von einem »inneren Drang« gesprochen.
»Was, wenn ein Patient der Mörder ist?« Es auszusprechen tat weh.
»Hast du einen Verdacht?«
»Kurt Mager oder David Brömme?«, flüsterte sie.
»Sprich sofort mit dem Kommissar, und sieh dir die Krankengeschichten an. Was ist ihr Primäraffekt?«
»Du meinst, die Emotion, unter der die Patienten hauptsächlich leiden und die das
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