Nacht ohne Angst: Kriminalroman (German Edition)
Augen. »Tu’s doch, dann haben wir es hinter uns. Hier lässt doch sowieso jeder die Sau raus, seit wir das Teufelszeug schlucken.«
In diesem Moment umklammerte Buchholz das Handgelenk des Patienten und nahm ihm das Messer ab.
»Genug.« Er war bedrohlich leise und schien Brömme damit zu erreichen. »Sofort in Ihr Zimmer! Ich komme mit.«
Mit einem letzten Blick auf den blutenden Kurt Mager auf dem Boden wandte sich Brömme ab, schob die Patienten weg und ging in sein Zimmer. Buchholz schickte kurz einen Blick zu Tessa und bedeutete ihr, dass er sich um ihn kümmern würde.
Tessa nickte. So energisch hatte sie Buchholz noch nie erlebt. Sie half Kurt Mager wieder auf die Beine.
»Kommen Sie, ich versorge Ihre Lippe. Die kann’s gebrauchen.« Wortlos ließ sich der zitternde Mager in den Behandlungsraum führen. »Und die anderen trollen sich wieder, die Show ist vorbei. Los, los.«
Während Tessa Kurt Mager das Blut aus dem Gesicht tupfte, stöhnte dieser leise vor sich hin. »Haben Sie noch woanders Schmerzen?«, fragte sie nach.
»Nein. Sehen Sie nur zu, dass das Blut weggeht. Ich will duschen.«
»Was ist denn nur in Sie gefahren?« Sie konnte es nicht fassen. Er hatte immer äußerst friedfertig auf sie gewirkt.
»Nichts.«
»Kommen Sie, raus mit der Sprache. Wer hat angefangen?«, wollte Tessa wissen.
Mager schüttelte den Kopf. »Er hat mich angefasst. Er war total wütend. Nicht auf mich.« Er zuckte zusammen, als Tessa versuchte, mit etwas Betaisadona die Schrammen in seinem Gesicht zu reinigen.
»Das brennt …«, stöhnte er.
»Das ist kein Jod, das kann nicht brennen.« Sie fasste sein Gesicht ganz behutsam an und tupfte die Stellen nur ab. »Ich bin ganz vorsichtig.«
»Er hat mich eine arme Wurst genannt und mich überall angefasst. Ich habe ihm gesagt, er soll das lassen.«
»Und das hat er nicht getan.«
»Ich habe gesagt, er soll sich waschen. Aber das wollte er auch nicht tun. Er muss sich aber reinigen, wenn er mich anfasst, sonst …«
»Stopp! Sie wissen, dass das ein Zwangsgedanke ist. Das ist nicht real. Seit wann zwingen Sie anderen Menschen Ihre Zwangsgedanken auf? Das passt gar nicht zu Ihnen.«
Mager schwieg.
»Was?«
»Der innere Drang quält mich. Es wird immer schlimmer. Ich will die Medikamente nicht mehr nehmen.«
»Was hat das mit dem Duoxepin zu tun?«
»Ich muss was ändern. Ich kann so nicht mehr weitermachen. Ich will, dass meine Frau zurückkommt«, sagte er mehr zu sich selbst als zu Tessa. In seiner Stimme lag eine Mischung aus Verzweiflung und Entschlossenheit. »Wissen Sie was? Lassen Sie das Blut dran. Ich muss es ändern, jetzt.«
»Okay. Klingt gut. Denken Sie dran: Das sind nicht Sie, das ist der Zwang!«
»Ich muss jetzt los«, sagte Mager und sprang von der Liege auf.
»Stopp. Was hat das alles mit Duoxepin zu tun?«, fragte Tessa erneut.
»Ich will keine Medikamente mehr nehmen! Gar keine!« Mager drängte Richtung Tür. »Und ich rufe jetzt meine Frau an und mache reinen Tisch. Dann ist es endlich vorbei.«
»Was ist vorbei? Warten Sie …« Sie erhielt keine Antwort.
Als Tessa wieder in der Ruhe ihres Büros saß, schüttelte es sie innerlich. Buchholz hatte mit Brömme gesprochen: Der hatte sich beruhigt, und es war ihm anscheinend alles ziemlich peinlich. Der Sozialarbeiter hatte Brömme angewiesen, in seinem Zimmer zu bleiben. Mager war losgestürmt, um zu seiner Frau zu fahren. Tessa überlegte, in welchem Zimmer sie Kurt Mager nun unterbringen sollte. Die beiden konnten sich auf jeden Fall kein Zimmer mehr teilen. Oder sollte sie die Medikamente erhöhen? Quatsch. Das Duoxepin musste weg. Sie erinnerte sich, wie begeistert sie noch vor wenigen Wochen von diesem neuen Wirkstoff gewesen war. Und wie zweifelnd sie heute hier saß. Wunder gab es eben nicht. Auch nicht in der Medizin. Manchmal hatte man nur etwas mehr Glück als die anderen. Sie versuchte, sich an etwas zu erinnern, was Sascha zu ihr über Expressivität gesagt hatte. Die Steigerung der Affekte. War es deshalb zu der Prügelei gekommen? Verstärkte das Duoxepin Gefühle ins Unermessliche? Sie würde das Duoxepin bei allen ihren Patienten absetzen. Am besten noch heute!
Das Telefon klingelte. Es war Paul.
Er rief aus der Personalabteilung an, wo er mit seinem alten Kumpel einen Kaffee trank. Er klang gehetzt, als ob er nicht viel Zeit hatte. Sein Kumpel war nur kurz auf der Toilette, und da er ganz alleine in diesem schönen Büro saß, hatte er ganz zufällig einen
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