Nacht ohne Angst: Kriminalroman (German Edition)
sich die Jungs weinend auf die Mutter. Es traf sie unvorbereitet, rücksichtslos, schutzlos. Aber sie war tapfer. Um ihrer Kinder willen. Tessa blieb und half die Erinnerungen an den Vater in Gedanken und Erzählungen zusammenzusetzen. Versuchte Gefühle zu spüren und einen Ausdruck dafür zu finden. Sie hielt das ohnmächtige Schweigen und das herzzerreißende Schluchzen aus. Stunden später organisierte sie, dass die Familie ihren Ehemann und Vater noch einmal sehen durfte. Ein letzter Abschied in der Rechtsmedizin, um die Wirklichkeit des Verlustes zu begreifen. Tessa wusste, dass die Fragen, ob man aus der Wohnung ausziehen müsse, wo das Geld herkommen solle, nicht herzlos, sondern begreifbar waren. Die Frage hingegen, wie die Kinder ohne ihren Vater weiterleben sollten, war es nicht.
Nach solchen Einsätzen kehrte sie müde und demütig in ihre eigene kleine Welt zurück. Dann versuchte sie die alltäglichen Dinge des Lebens zu genießen. Streckte sich in einem heißen Vollbad aus. Nahm sich Zeit bei ihrem Abendessen, zündete sich eine Kerze an und ließ ihre Gedanken wandern.
Ihr fiel auf, dass sie noch nie zu einem Tötungsdelikt gerufen worden war. Vielleicht wäre sie Torben Koster dann schon viel früher begegnet. Fast ein bisschen schade, dachte sie und schüttelte gleich den Kopf. Wie makaber …
Sie gab sich einen Ruck und stand auf. Die Muschel legte sie vorsichtig zurück zu den anderen. Sie musste los, wenn sie nicht zu spät kommen wollte.
*
»Nein, ich kann nicht«, sagte Jasmin Koster.
»Na, komm. Das haben wir schon lange nicht mehr gemacht«.
Vor Koster auf dem gedeckten Frühstückstisch stand eine Schale Müsli mit Obst und Milch, ihm gegenüber saß seine Frau mit der Zeitung in der Hand. Auf ihrem Teller lagen nur ein paar Apfelschnitze. Wie konnte sie davon satt werden, ging es ihm durch den Kopf.
»Es wäre doch schön, wenn wir uns zum Mittagessen treffen könnten. Und danach vielleicht noch einen Kaffee trinken? Nur wir zwei? Wie früher?«
Als Ergebnis seiner nächtlichen Grübeleien wollte er sich mehr Mühe geben. Er sehnte sich danach, einen Weg zu Jasmin zu finden. Er wollte doch sein Leben mit ihr teilen, nicht nur das Obst, oder?
Sie verschanzte sich immer noch hinter der Zeitung. Er starrte auf die Schlagzeile und wartete auf ihre Antwort. Verrückter Killer tötet in der Psychiatrie. Geschmacklos. Wie sein Müsli.
»Nein, ich kann heute Mittag nicht. Komm doch ausnahmsweise zum Abendessen nach Hause.« Ihr Ton war schnippisch. »Dann siehst du auch deine Kinder mal wieder. Vielleicht erkennst du sie ja noch?«
»Du hast ja recht.« Er versuchte mit seiner Hand über den Frühstückstisch zu reichen, um ihr den Arm zu streicheln. Sie nahm die Arme vom Tisch und legte die Zeitung weg. Außerhalb seiner Reichweite. Er griff wieder nach dem Löffel.
»Weißt du, ich habe es satt auf dich zu warten. Ich möchte, dass du für mich da bist. Dass du für uns da bist. Verlässlich. Verstehst du?«
»Ich stecke gerade in einer Morduntersuchung. Ich kann nicht immer … ich … gib uns noch eine Chance. Wenn ich den Fall geklärt habe, könnten wir in den Urlaub …«
»Du steckst immer in irgendeinem Fall«, sagte sie bitter.
»Du hast eben einen Kriminalkommissar geheiratet, keinen Buchhalter.« Er merkte, wie seine guten Vorsätze schwanden.
Jasmin griff nach einem Stück Apfel, biss ab und legte ihn auf den Teller zurück. Verhungerte sie in der Ehe mit ihm? Er spürte, wie die Traurigkeit in ihm hochkroch und ihm den Hals zuschnürte. Sein Löffel fiel klirrend in die Schale zurück.
»Komm heute Abend. Ich koche für uns.« Sie verschanzte sich wieder hinter der Zeitung.
»Gerade heute Abend …« Weiter kam er nicht, bis sie ihm in die Parade fuhr.
»Siehst du, genau das meine ich. Es passt dir nie. Andere sind immer wichtiger als deine Familie. Ich habe dieses Hinhalten so satt. Du bist wirklich jämmerlich.« Sie stand auf und sah ihn an. In ihrem Blick lag viel mehr als Wut. Abscheu. »Komm einfach heute Abend«, fügte sie leise hinzu.
Koster starrte sie fassungslos an. Das waren also ihre Bedingungen. Ultimatum und Versprechen zugleich. Verhandelt wurde nicht. Schon gar nicht mit ihm. Dann konnte er genauso gut gehen. Obwohl er noch Hunger hatte.
Draußen war die Luft klarer, aber genauso kühl.
*
Die Rechtsmedizin hatte einen direkten Zugang zur Seitenstraße. Schließlich sollten die Leichenwagen nicht über das Klinikgelände rollen. Von außen
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